Christian Graf – Burghard Rausch – Rockmusik Lexikon Europa
Vorweg: In den 90er jähren ein Rocklexikon herauszugeben, ist angesichts der mittlerweile völlig explodierten Anzahl von alten und jungen Pop-Heroen ein undankbares Mammut-Projekt, dessen Ergebnisse zum Zeitpunkt der Drucklegung meist schon veraltet sind und es sowieso niemandem recht machen können. Hut ab also vor Christian „Sisyphos“ Graf und seinem neurekrutierten Mitstreiter Burghard Rausch, die Grafs mittlerweile zehn Jahre alte Europa-Bände aus dem Taurus-Verlag auf über 700 Einträge erweiterten und dabei im Umfang fast verdoppelten. Zwar haben die einzelnen Artikel nach wie vor den sachlich-nüchternen Charme des FAZ-Wirtschaftsteils und beschränken sich häufig auf — in der Regel allerdings sehr repräsentative — Auswahldiskographien, dafür informieren sie schnell und exakt über das Wesentliche. Die Auswahl erfolgte streng subjektiv -— ein Pluspunkt, wenn man bedenkt, welche katastrophalen Lücken zum Beispiel das Laufenbergsche Rockund Pop-Lexikon seinem objektiven Auswahlkriterium (jede darin aufgenommene Band muß mindestens einen Top 10-Singlehit vorweisen können) verdankt. Positiv schlägt weiterhin zu Buche, daß auf der Basis des Ehnert-Kinslerschen Deutschrocklexikons (‚Rock in Deutschland‘, Hamburg: Taurus 1984, 17,80) auch die wichtigsten deutschen Musiker und Bands Aufnahme gefunden haben. Bei der Relevanz der aufgeführten Künstler setzt zwangsläufig die Kritik ein: Daß von den 450 Beiträgen aus dem Vorgänger-Werk nur ganze sechs ausgemustert wurden (darunter die Bee Gees und Marc Bolan), ist schwer nachvollziehbar, denn der Mantel der Rockgeschichte streift das Wirken von Gruppen wie Visage, Savage Rose, Horslips, Nik Kershaw und bestimmt 100 ähnlichen Grenzfällen doch wohl bestenfalls peripher. Dafür fehlen zum Beispiel aus dem bundesdeutschen Kontext die Fantastischen 4, Selig, H-BlockX, gesamteuropäisch vermißt man zum Beispiel Björk als Solistin und die ganze Britpop-Riege mit Ausnahme von Suede. Der Redaktionsschluß (31. März 1994) entschuldigt die meisten Lücken, aber wieso braucht es eigentlich zwei volle Jahre um von der Manuskript- zur Endfassung zu kommen? Die Trumpfkarte jedes neuen Lexikons, Aktualität, hätte man wirklich besser ausreizen können. Mehr als merkwürdig ist auch die Idee, den 1989 erstmals erschienen anderen Teil des Lexikons ‚Amerika, Afrika, Australien‘ (Frankfurt: Fischer 1996, 2 Bände, zusammen 1126 Seiten, 29,80) einfach völlig unverändert nachzudrucken -— was interessiert den Musikfreund schon brennender als mittlerweile fast acht Jahre alte Fakten? Überhaupt war diese kontinentale Zweiteilung schon bei der ersten Ausgabe schwer nachzuvollziehen und erwies sich bei der Benutzung häufig als unpraktisch, aber diese „neue“ Lösung versprüht denn doch einen ziemlich absurden Charme. Ein wirklich befriedigendes Nachschlagewerk in Sachen Pop sollte sich in Zukunft vielleicht an den Lexikographen der Sozial- und Geisteswissenschaften orientieren: Bei Soziologen, Politik-, Sprach- und Literaturwissenschaftlern trifft ein Herausgeber die Stichwort-Auswahl und delegiert die einzelnen Artikel mit exakten Vorgaben über Umfang und Inhalt jeweils an einen der kompetentesten Spezialisten für das jeweilige Gebiet —- das geht schnell und bringt originellere und qualitativ bessere Beiträge, als sie jedes deutschsprachige Rocklexikon zu bieten hat (und Musikjournalisten, die ihre üppige Freizeit nur dazu nutzen, am Hungertuch zu nagen, gibt es hierzulande mehr als man für ein solches Unternehmen braucht). Trotz alledem kann man das ‚Rockmusiklexikon Europa‘ guten Gewissens empfehlen (aber Finger weg von ‚Amerika, Afrika, Australien‘!), denn für den heutigen Buchmarkt ist das Preis-Leistungsverhältnis immer noch geradezu sensationell — und tröstet über den leicht musealen Zuschnitt der beiden Wälzer hinweg.
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