Rock-Spezial

Mit einer charmant-penetranten Unwiderstehlichkeit bieten die Fall seit Jahren ihren archaischen Rock ’n‘ Roll an; ihre Musik existiert dabei außerhalb jeglicher Modetrends, und genau das macht eine neue Fall-LP immer wieder zu einem brodelnden Erlebnis.

BEND SINISTER (Beggers Banquet) heißt der glorreiche Nachfolger des wunderschönen THIS NATION’S SAVING GRACE Albums (1985); die meisten der neuen Fall-Kompositionen treiben entspannt, aber kraftvoll dahin und erinnern in ihrer sanften Melodie-Rhythmus-Kollision an die beiden Velvet Underground-Klassiker AN-OTHER VIEW und VU. Frech, naiv und rüde klingt BEND SINISTER und bestätigt wieder einmal, daß die Gruppe des Ehepaares Mark E. und Brix Smith einen Rock ’n‘ Roll beherrscht, der die Charakterisierung „modernprimitiv“ wirklich verdient hat! (6)

Neben den DB“s gehörten die Plimsouls aus Los Angeles Anfang der 80er Jahre zu den wichtigsten, ideenreichsten Pop-Beat-Combos amerikanischer Prägung; Peter Case, Gitarrist/Harmonica-Spieler/Sänger, bewies als Mitglied der Plimsouls. daß er Gespür für eigenwillige Songstrukturen hat. Wer die Plimsouls damals verpaßt hat. der kann sich von dieser Case-Qualität jetzt überzeugen lassen — auf dem gleichnamigen, ersten Solo-Album (Geffen/WEA) des amerikanischen Einzelgängers.

Wie sein Landsmann Stan Ridgway, so schreibt auch Peter Case Songs, die filmisch orientiert sind, d. h., es werden Kurzgeschichten erzählt, die entsprechende Bilder per Wort gleich mitliefern. Rauhe Rhythmen bestimmen das von T-Bone Burnett und Mitchell Froom (von den Del-Fuegos) produzierte Album, auf dem sich so gestandene Musiker wie Roger McGuinn (Byrds), Jim Keltner, John Hiatt, Jerry Scheff und Van Dyke Parks versammelt haben, um den faszinierenden Ausritt des Peter Case ins Land der Blues-Country & Folk-Musik stilvoll zu begleiten! (5)

Die Mighty Lemon Drops aus Wolverhampton haben sich intensiv die frühen Platten der Liverpool-Psychodeliker Echo & The Bunnymen, Teardrop Explodes und Wah!Heat angehört, ehe sie sich zu eigenen Aufnahmen entschlossen. Das Debüt-Album HAPPY HEAD (Chrysalis/Ariola) liegt mit seinen markanten Baßlinien und dem Northern-Soul-Feeling im Beat ganz in der Nähe der drei genannten Vorbilder; Songs wie „Happy Head“ und „Hypnotised“ könnten direkt vom ersten Album der Bunnymen stammen. Thematisch gehl es in den Liedern der Drops ausschließlich um Mann-Frau-Beziehungen, wie beim Rock-Veteranen Lou Reed.(4)

SOUND OF CONFUSION (Glass Records/Rough Trade) heißt das wohl definitive Werk der Psychodelik, das in diesem Jahr entstanden ist. Die vier Musiker von Spacemen 3 scheinen besessen zu sein vom allerersten Stooges-Album: Sie covern nicht nur mit viel Vehemenz und in bombastischer Keller-Kakophonie-Manier den Minimal-Rocker „Little Doll“ (von besagter Stooges-LP); sie suhlen sich geradezu auch in allerlei Gitarren-Wah-Wahs und Feedback-Orgien. Ein faszinierender Wall-To-Wall-Sound, der Verwirrung stiftet, und so heißt denn auch treffend der Eröffnungssong: „Losing Touch With My Mind.“ (5)

Wer jetzt noch Platz hat im Ohr und ein Mehr ertragen kann, wem die Noise-Bands Sonic Youth und Butthole Surfers noch zu zahm sind, für den ist ATOMIZER (Homestead/EfA) das geeignete Aufputschmittel. Big Black kommen aus Minnesota/USA und hämmern auf diesem Album einen Noise-Beat daher, der es mit jedem Höllentrip aufnehmen kann: ein zerrender Gitarren-Rock, der mit übersinnlicher Schwerkraft gespielt wird; das Stück „Fists Of Love“ zitiert gespenstisch die Titelmelodie des John Carpenter Films „Assault On Precinct 13“. (5)

Der Gitarrist & Sänger Howe Gelb, der seine Vorbilder in Neil Young und Jeffrey Lee Pierce hat, spielt mit seiner Formation Giant Sand zwei beeindruckende Country-Rock-Versionen des Bob Dylan-Klassikers „All Along The Watchtower“ und der traumatischen Johnny Thunders-Hymne „You Can’t Put Your Arms Around A Memory“. Das neueste Werk dieser US-Band, auf dem neben den beiden Fremd-Kompositionen ausschließlich eigenes Country-Rock-Material manisch gespielt wird, trägt den Titel BALLAD OF A THIN LINE MAN (Zippo/TlS). (5)

Tonio K. ist ein Songwriter/Gitarrist mit Vergangenheit: Vor sieben Jahren hat er sein erstes Album (LIFE IN THE FOOD-CHA1N) veröffentlicht, und ROMEO UNCHAINED (A&M/ IMS-lmport) ist sein bisher viertes Werk. Tonio K., der eigentlich Steve Krikorian heißt, liegt mit seinem Sinn für melodramatische Rock-Hymnen ganz in der Nähe eines Jackson Browne oder Bruce Springsteen. Unterstützt wird Tonio K. hier u. a. von den Gitarristen T-Bone Burnett und Charlie Sexton. ROMEO das ist romantischer Mainstream-Rock für altgewordene Bob Dylan-Freunde. (3)

Kantiger und wütender klingt dagegen der Boogie-Beat, den die Soul Asyfum auf ihrer ersten LP MADE TO BE BROKEN (Twin Tone/Rough Trade) spielen; produziert von Bob Mould, dem Hüsker-Dü-Frontmann. klingen hier die schreienden Gitarren nach eben Hüsker Dü. Während die Harmonien der Songs ganz klar an die 60er Jahre erinnern.(4)

60er-Jahre-Boogie-Feeling verbreitet auch OUT MY WAY (SST/Rough Trade), das neue Werk des Trios Mcal Puppets. Vom soffen Country-Boogie „Mountain Line“ bis zur frenetischen „Good Golly Miss Molly“ Rockabülylnierpretation beherrschen die Drei aus Phoenix alles, was traditionelle amerikanische Rock „n“ Roll-Musik bieten kann. (4)

Die Throwing Muses aus Boston haben in Kristin Hersh eine junge/extravagante Sängerin, die Folk-Musik hysterischer/wilder interpretiert als eine Suzanne Vega und dennoch vereinzelt so näselnd-melancholisch nerven kann wie eine Melanie. Das gleichnamige Album (4AD/Rough Trade) der Band verdeutlicht sehr gut, wo die Stärke des modernisierten Folk-Roeks liegt, der hier zelebriert wird: in den versetzten Rhythmus- und Melodie-Slrukturcn, die jeden Song zu einem spannungsvollen Hörerlcbnis machen! (4)

Sky Sunlight Saxon, der ehemalige Seeds-Sänger, ist nach seinem mehrjährigen Exilaufenthalt auf Hawaii zurückgekehrt nach Los Angeles, wo er mit Unterstützung der All-Star-Band Fire Wall das hervorragende Album A GROOVY THING aufnahm (New Rose/SPV). Die neuen Saxon-Kompositionen, die er größtenteils zusammen mit dem Ex-Steppenwolf-Mitglied Mars Bonfire geschrieben hat, strahlen all die elektrisierende Psycho-Manic aus, die einst den Sound der Seeds so phantastisch bestimmt hat! Zu den Musikern, die 1986 den Seeds-Sound des Jahres 1966 nachempfinden, gehören die Gitarristen Eddie Munoz (Ex-Plimsouls). Rieh Coffee (von den Thee Fourgiven), Shelley Ganz (von den Unclaimed), der Bassist Lee Joseph (von Yard Trauma) und der Drummer Roy McDonald (von den Things). (5)

„Pushing Too Hard“, die legendäre Seeds-Hymne, taucht auf in einer Neuinterpretation — gespielt von den Bonapartes — auf dem Sampler 1966 GARAGE 1970 (Garage RccsTNew Rose/ SPV), der ausschließlich Cover-Versionen berüchtigter Garagen-Beat-Klassiker präsentiert: Da spielt Jad Wio „You’re Gonna Miss Me“ (von den 13th Floor Elevators. 1966), Super Alice regenerieren das „Shakin‘ Street“ der MC 5 (1970). Ein wirklich nettes Album, das Erinnerungen wachruft und gleichzeitig aktuellen Pop-Esprit verstreut. (4) Peter Murphy und das Gespann Daniel Ash, David J. und Kevin Haskins -— letztere treten unter dem Gruppennamen Love And Rockets auf —- haben eine gemeinsame Vergangenheit, und die heißt Bauhaus (die Musikgruppe, die vor vielen Jahren mit einem düsteren Gotik-Sound herumspielte). SHOULD THE WORLD FAIL TO FALL APART (Beggars Banquet/Polydor) ist Murphys Solo-Album, das angefüllt ist mit wunderbaren, leicht gebrochenen Pop-Balladen, wie sie ein David Bowie heute vermutlich gerne schreiben würde. Unter den Murphy-Eigenkompositionen tummeln sich zwei süß-sauer-verpoppte Cover-Versionen der Endzeit-Rocker „Final Solution“ (Pcre Ubu) und „The Light Pours Out Of Me“ (Magazine). (4)

EXPRESS (Bellaphon), das zweite LP-Werk von Love & Rockets, wirkt dagegen wie eine kosmische Ausgabe der Heavy-Metal-Truppe Grand Funk Railroad: schnelle, primitive Mega-Rock-Kreuzzüge wechseln sich ab mit akustischen Cosmic-Balladen für ausspannende Raumfahrer. (5)

SPK, die Veteranen des finsteren Montage-Industrial-Sounds. sind mit ZAM1A LEHMANNI (Normal/EfA) zurückgekehrt an die Quelle ihres Wirkens: Nachdem ihre letzten Produkte zwischen D.A.F. und Kraftwerk ein elektronisches Metal-Dance-Disco-Ficber zelebrierten, setzt das nun vorliegende neue Album wieder allerlei folkloristische Instrumente und Klänge ein, die sich zu einem atmosphärischen Gesamt-Spiritual-Kunstwerk formieren. (4)

Recoil -— Hinter diesem Pseudonym, das offiziell nicht gelüftet wird, müssen einfach die Ex-und-wieder-Wire-Mitglieder Gilbert und Lewis in Zusammenarbeit mit dem Pop-Electronic-Wunderkind Daniel Miller stecken: denn das Album RECOIL I+II (Mute/ Intercord) besteht ausschließlich aus einem einzigen Song, der über zwei Seiten nichts anderes tut. als die elektronische Pop-Oper „Or So It Seems“. die Gilbert/Lewis unter dem Gruppennamen Duet Emmo vor drei Jahren veröffentlichten, zu wiederholen. (4)

Sehr aufregend, sehr psychedelisch, sehr tief verwirrend kommen die Soundlandschaften der multi-nationalen Combo Philip Boa And The Voodoo Club daher: Extravagante Dschungel-Rhythmen vermischen sich mit angenehm zerstreuender Pop-Mentalität. Seit Can und La Düsseldorf hat keiner mehr Sinn für Rhythm & Vision so konsequent dokumentiert wie dieser Voodoo-Club. ARISTOCRACIE (Constrictor/EfA) ist ein Album, das den Rhythmus so unkonventionell pflegt wie ein Lee Perry! (4)