Grenzmusik

Dem Minimalisten-Guru Philip Glass ist mit seinen SONGS FROM LI-QUID DAYS (CBS) eine handfeste Überraschung gelungen. Nicht, daß er ganz auf die ewiggleiche Leier verzichtet hätte. Akkorde zu bombastischen Arpeggien aufzuspreizen. Aber erstens hat er sich diesmal um Songstrukturen bemüht: und zweitens engagierte er als Textlieferanten David Byrne. Laurie Anderson. Suzanne Vega und Paul Simon. Drittens fallen die bis zum Disco-Beat getriebenen Rhythmen und die Stimmen von Janice Pendarvis oder den Roches angenehm auf. Linda Ronstadt dagegen wurde zum überirdischen Chor gesplittet. als hätte das Mr. Morricone nicht längst wirkungsvoller geschafft: kopflastiger Kitsch statt Herz oder Ironie. (3) Vom Aufwand her also doch mal wieder pathetischer Maximalism.

Wers wirklich minimal haben will, greife zu GRIS (No Man’s Land), einer der britischen Industrial-Band Zovict France — das sind die mit den Irrsinns-Covern aus Alu, Hartfaser. Jute oder Plastik. Ob die düstere Geräuschkulisse es wert ist. die Abtastnadel aufs Spiel zu setzen? Das geheimnisvolle Gewaber wurde diesmal nämlich in Dachpappe eingehüllt, die sich als ständig rieselnde Quelle von Schmirgelpulver schnell unbeliebt macht. (3)

I HAVE NO FEELINGS singt Annette Peacock auf der jüngsten Veröffentlichung ihres IRONIC-Labels. Die „Outness Queen“ liebt skeptische Rollenspiele. Ihre Melodielinien sind so gegen jede Konvention konstruiert, daß sie auch in den häufigen Unisono-Passagen (Gesang plus diverse Keyboards) mühelos das Interesse wachhält. Ihre Spezialität (vor allem vom Jazzpianisten Paul Bley hochgeschätzt) sind rhythmisch ungebundene Balladen, brüchige Hymnen an den Stillstand. Gelegentlich gelingt es ihr gar. durch vollkommene Ruhe noch Schockwirkung zu erzielen: cool, aber bestimmt nicht gefühllos. (4)

So recht was fürs Herz sind die Guesl Stars. Ihr zweites Album heißt OUT AT NIGHT (Eigelstein) und sollte mehr noch als ihr Debüt die euphorische Stimmung vermitteln, die das englische Frauen-Kollektiv live ausstrahlt. Zumindest bei den instrumentalen Passagen (zwischen Swing. Latin. Soul und und) ist dies nicht ganz geglückt. Die Stärke der Band liegt weniger bei Improvisationen, sondern im Arrangement vor allem des Gesangs (der auf der zweiten Seite ziemlich kurz kommt). Daß die sechs Musikerinnen zumeist auch singen und komponieren, sorgt für eine angenehme Vielfalt der Stile und Klangfarben. (4)

Endgültig zu tanzbarer Musik: Rüben Blades und seine Seis del Solar sind seit ihrem Rockpalast-Auftritt im Oktober 1985 die Salsa-Lieblingskinder der hiesigen Presselandschaft. Dabei spricht nicht nur das Fehlen einer Brass-Section gegen das sorglose Aufkleben des Salsa-Stickers. Blades, Rechtsanwalt mit politisch ambitionierten Texten, setzt musikalisch stark auf die Klangfarben der Popmusik. Synthesizer spielen auf ESCENAS (Messidor) eine wichtige Rolle. Gaststimmen (Joe Jackson mit einem Tasten-Solo. Linda Ronstadt) beweisen, daß der Anspruch auf afro-cubanische Authentizität gar nicht erst erhoben wird. Warum auch? Die „Szenen“ sind eine zugkräftige Kombination „schwieriger“ Texte mit einer die Latino-Traditionen sprengenden Tanzmusik — rhythmisch noch deutlich an Salsa orientiert, sonst aber für jeden nur denkbaren Seitensprung offen. Polyrhythmik für den Bauch: die Übersetzung rechtfertigende Texte für den Kopf — oder auch umgekehrt, denn die Musik ist bei aller Intensität raffiniert; die spanischen Gesänge sind von der wohlmeinenden Politphrase weit entfernt. (5)

Frank Zappa, in den letzten Jahren zum hemmungslosen Selbst-Plagiator heruntergekommen, hat sich denn doch eines besseren besonnen: Auf der A-Seite von F. Z. MEETS THE MOTHERS OF PREVENTION (EMI) swingt er munter drauf los, liefert handfeste Songs und ehrbare Gitarrensoli ab. Das obligatorische Marimba-Geklöppel kann er — dem Sound-Sampling sei Dank — mittlerweile selbst an den Tasten erledigen.

Gitarren- und Vocalshalber unterstützt ihn unter anderem Johnny „Guitar“ Watson.

Nur die Synclavier-Experimente auf der B-Seite leiden mal wieder etwas unter der Protzlust des Herren, die aber hier wenigstens mit Experimentierfreude gepaart ist: Wo die „American Version“ den obligatorischen Hohn auf US-Politiker bietet, wird einem bei der in unseren Breiten vertriebenen Variante dreimal Elektronik pur serviert. Knapp: (4)

Zappas Ex-Keyboarder Don Preston ist der Duo-Partner auf ALIEN (WATT), dem neuen Opus von Michael Mantler. Mir kommt es vor wie eine instrumentale Neuversion der Stimmung auf THE HAPLESS CHILD — wobei mir diese LP des Trompeters nicht nur wegen Robert Wyatts zu Herzen gehendem Gesang lieber ist als der wüste Klangzauber von 1985.(3)

Klassik, Buschgesänge und Art-Rock entlockt Poli Palmer (Ex-Chappo bzw. Family) seinem Fairlight-Computer. Fragt sich bloß, wozu der Aufwand. Programmatischer Titel des Albums: HUMAN ERROR (Teldec. 3).

Wenn schon Midi-Querverbindungen dafür sorgen, daß Gitarren mal nach Orgeln und mal nach Bläsern klingen, dann doch gleich so respektlos Verwirrung stiftend wie beim Duo der beiden Gitarristen Bill Frisell & Vernon Reid. Ob Banjo oder Klampfe. Django Reinhard oder Heavy Metal — nichts ist ihnen heilig oder unter ihrer Würde. Vier Punkte für Mut, Witz und souveräne Umsetzung auf SMASH & SCATTERATION (Minor).

Wenn das 20-Mann & Frau-Orchester The happy end vor allem Weill und Eisler spielt, so hat das nichts damit zu tun, daß die beiden gerade en vouge sind. Schon die rasante Version des „Kanonensongs“ zeigt, wieviel Spaß hinter dieser musikalisch-kämpferischen Wandzeitung steckt. Nicht wenige Titel wurden in Bibliotheken ausgegraben; aber eine Band mit nicht weniger als neun Saxophonisten kann jede Menge Staub von der Partitur pusten. Ob Charles Ives oder Victor Jara — die Interpretationen sprechen für THERES NOTHING QUITE LIKE MONEY(Circus,4).

Das Aachener Label amf wirbt mit den Schlagworten „Avantgarde-, New-Jazz“. Wenn es um die Drei-Frauen-Formation Double-X-Projekt geht, fallen mir zur Beschreibung dieser auffallend persönlich gefärbten Experimentalmusik nur annäherungsweise Vergleiche ein. An Cassiber erinnert eine Hymne auf die Wale oder das schnatternde Saxophon über ruhigem, fast meditativem Klangteppich, die Kombination von aufrüttelndem Gesang und cooler Elektronik (die hier allerdings weniger brachial eingesetzt wird). Manchmal assoziiere ich auch frühe Magma-Gesänge. Und bei schwächeren Passagen gymnasialdeutsche Neutönerei. Der Mut und die für Newcomer doch recht professionelle Umsetzung sind bewundernswert. Hut ab vor THIS IS THE DAY THE SKY FALLS THROUGH THE GLASS WALL. (4)

Japotage, Elektro-Pop aus München, wird dagegen zu unrecht als Avantgarde angeboten. Das alte Dilemma: konservatives Pop- bis Jazzrock-Material, dem originelle Klänge den Anstrich des Neuen verleihen sollen. Die pubertären englischen Texte kosten einen weiteren heißen Punkt. JAPOTAGE (FROG) ist nicht mehr als ganz nett.

Curlew hört sich auf NORTH AMERICA (MOERS) an wie die Skeleton Crew mit einem Gastbläser. Dabei hat der Saxophonist George Cartwright die Band 1983 (und damals noch mit Bill Laswell am Baß) gegründet. Mittlerweile dominieren die Avantgarde-..Folker“ Fred Frith (Gitarre, Baß) und Tom Cora (Cello). Zahllose stilüberschreitende Ein- und Ausfälle werden in knappen Songs auf den Punkt gebracht. Echt kreativ, isn’t i Auch auf die Idee, Jean-Luc Godard einen musikalischen Tribut zu zollen, muß man erst einmal kommen. GODARD CA VOUS CHANTE? (nato) fragen das Amati-Ensemble (mit einer Sonate von Vivaldi), Arto Lindsay (mit beinhartem Chaotenlärm), Daniel Deshays (Rezitation eines mir unverständlichen Textes), Caroline Gautier (chansonhalber) und John Zorn. Der hat mit sechs Musikern und drei Sprechern eine beinahe 2(1 Minuten lange Collage eingespielt, die jeder Beschreibung spottet. Zorn läßt keine Stilrichtung aus; alles ist auf nun wirklich geniale Weise miteinander verwoben. Ich weiß von keinem Musikstück der 80er Jahre, das so geballte Aufmerksamkeit verdient, wie diese Enzyklopädie hörenswerter Klänge. (Für John Zorn: 6; für Vivaldi: 4; für den Rest: knapp 3) Recommended hat einen Klassiker in Sachen Art-Rock neu abgemischt und pressen lassen: IN PRAISE OF LEARNING. 1975 von Henry Cow veröffentlicht. Die Platte mit dem roten Plastikstrumpf auf dem Cover ist ein Muß für Anhänger der Canterbury-Scene und alle Freunde verspielter Obskurität. (5)