Rock-Spezialitäten

Jeder, der seine Ohren nicht länger diesem netten, märchenhaften Sound der Rain Parade und R.E.M. aussetzen will, sollte sich einen Stachel gönnen und in VALLEY OF RAIN reinhören, einem überragenden LP-Debüt der Gruppe Giant Sand aus Arizona. Der Sänger & Gitarrist Howe Gelb hatte bereits mit seiner Band The Band Of Blacky Ranchette die dortige Musiklandschaft mit seinen Beat-Visionen bewässert.

Giant Sand aber klingt härter: stachelige wüste Gitarre, scharf schneidendes Drumming und der majestätische Gesang von Howe Gelb lassen den hyper-aktiven Rhythm & Blues auf VALLEY OF RAIN glänzen; seit dem LP-Debüt des Gun Club und dem brillanten John Cale-Alhum SA-BOTAGE habe ich nicht mehr einen derartig ruppigen Blues —- von weißen Männern gespielt —- gehört.

VALLEY OF RAIN ist als europäische Pressung, sowohl bei New Rose als auch bei Zippo erschienen, wobei man sich die letztere besorgen sollte, weil es hier einen Song („Torture Of Love“) mehr gibt (Zippo/TIS. 6)

Aus Oklahoma City kommt eine weitere Band, die den schmutzigen, alten Rhythm &. Blues zelebriert — die Fortune Tellers sind auf FORTUNE TOLD FOR FREE (New Rose/SPV) inspiriert von Bo Diddley. spielen aber so. als würden sie mit einer Betonmauer kommunizieren. (5)

Dementia 13 nennt sich eine amerikanische Psycho-Formation, die auf ihrem gleichnamigen LP-Debüt vom elektrifizierten Folk-Blues über eine originalgetreue Doors-Orgel alle Elemente der psychedelischen Popmusik beherrschen. Die Vorbilder dieser Band liegen bei Syd Barrett, Roky Erickson und den Electric Prunes. (Midnight Records. 4)

Auch Plasticland beherrschen die 60er Jahre; dröhnende Fuzz-Gitarren und säuselnde Mellotron-Töne machen einmal wieder deutlich, daß es die Amerikaner sind (wie Plasticland), die den frühen britischen Flower-Power-Beat heute am besten imitieren können: WONDER WONDERFUL WONDERLAND (Enigma/Intercord Import, 3).

Zurück in die Gegenwart, mit den hervorragenden Fetch’n Bones aus North Carolina. Wieder einmal hat sich der Spezialproduzent für „Gitarren-Rock“, Don Dixon (R.E.M.), einer jungen Band angenommen; CABIN FLOUNDER ist ein faszinierendes Werk, in dem sich diverse Elemente des Rockabilly, Country-Rock, Gara«en-Punk und Jazz-Swing zu einem brodelnden Pop-Diamanten vermischen. (DB Records/Stiff, 5)

Vom San Francisco-Labcl Sübterranean kommen zwei interessante Neuerscheinungen: Eine Frauenband namens Wilma zieht auf dem Album-Debüt alle Register der avantgardistischen/experimentellen Musik; disharmonische Gitarrenschleifen reiben sich an zerrenden Violin-Passagen, während ein monotoner Sprechgesang engagierte Texte darüberlegt. (4)

Der quirlige Percussion-Spieler Stefan Weisser alias Z’EV ist ja bekannt dafür, das Vorbild für die hämmernden Metall- und Blech-Ergüsse der Einstürzenden Neubauten und Test Department zu sein. Die rhythmischen SINFONIEN FÜR METALL UND ANDERES, GEFUNDENES BLECH, die der Performance-Künstler ganz allein auffuhrt, werden eigentlich nur noch von einem anderen Percussion-Meister übertroffen — von Ginger Baker. Erstaunlich, welche Dynamik in diesen Z’EV-Kompositionen steckt, die der Artist auf MY FAVORITE THINGS bietet! (5)

Jesus Couldn’t Drum ist vielleicht der dämlichste Titel, den man einer Gruppe geben kann. Unter Mitwirkung des ehemaligen Monochrome-Set-Mitglieds Lester Square ist mit ER … SOMETHING ABOUT COWS dennoch ein wunderschönes, englisches Pop-Album entstanden. Vom folkloristischen Beat a la Monochromes bis hin zu frühen Eno-artigen Pop-Liedern kann die Band mit umfangreichem Stil-Repertoire überzeugen. (Lost Moment, Rough Trade, 4)

Der New Yorker Saxophonist John Zorn (Golden Palominos), der Gitarrist Arto Lindsay, der Multi-Performer Clin Ruin Foetus und der Swans-Drummer Roli Mosimann gehören u.a. zu der Musiker-Equipe, die sich auf dem großartigen Album GO-DARD CA VOUS CHANTE? versammelt haben; sie nennen sich The Godard Fans und liefern ihr Tribut an den Regisseur Jean-Luc Godard mit trancehaften Songs ab (zwischen Jazz und Electro-Rock). (Nato/Pläne, 5).

Die Minimal-Art-Combo Tödliche Doris aus Berlin wirkt auf UNSER DEBÜT sehr angestrengt und artifiziell: bekannt für ihr sozial-dadaistisches Engagement, tragen sie theatralisch ihre naiven Beobachtungen über einem vielschichtigen Instrumentalsound vor — in einer Art Mischung aus Laurie Anderson und Brecht/ Weill. Die Tödliche Doris sind die Einstürzenden Neubauten für die Intelligenzia. (Ata Tak/Pläne, 4).

Thomas Schwebel (Fehlfarben),Karl Dahlke (Pyrolator) und der Sänger Stoya sind das Trashmuseum. Sie haben sich beliebte Songs aus der Pop-Geschichte genommen — von Human League. Nick Cave bis zu Willie Nelson — und sind mit ihnen hart ins Gericht gegangen, d.h.. man hat den Originalen ihre Originalität genommen und sie alle sehr soul-bombastisch interpretiert, etwa im Stil von „Guardian Angel“ (Drafi Deutscher / Nino De Angelo). LP-Titel: I“D RATHER DIE YOUNG (THAN GROW OLD W1TH0UT YOU). Schön & entspannt! (Das Büro / Pläne, 5).

Karl Dahlke ist auch Mitglied des Plans, und von dem gibt es einen guten Querschnitt durch das fünfjährige musikalische Gesamtwerk — FETTE JAHRE ist eingängig, flippy-poppig und ein deutschsprachiges Juwel! (Ata Tak / Pläne, 5).

Cassell Webb wurde in Texas geboren, sang in den Sechzigern bei der Gruppe The Children (die im Vorprogramm der Doors spielten) und hat mit Country-Star Willie Nelson zusammengearbeitet. Jetzt hat die Sängerin in England zusammen mit Adrian Burland (The Sound) und dem Produzenten Craig Leon (Jeffrey Lee Pierce) die LP LLANO aufgenommen. Strenge, einfache Melodien stechen aus der stark atmosphärischen Musik hervor: es sind romantische Sinfonien, wie man sie von den Cocteau Twins und Dead Can Dance gewohnt ist. Traumatisch. (New Rose, SPV.4)

Auch von Dead Can Dance gibt es etwas Neues: Lisa Gerrard (Gesang) und Brendan Perry (Gesang/Instrumente) schweben mit ihrem Electro-Orchestral-Sound in Streicherbegleitung. Während sich die Cocteau Twins oft in monotoner/düsterer Jammermusik suhlen und verlieren, sind die voluminösen Kompositionen von Dead Can Dance weit und treibend angelegt: SPLEAN AND IDEAL (4AD/ Rough Trade, 4).

Alex Chilton ist ein Mann mit Vergangenheit: Nachdem der Sänger/Gitarrist mit seinen Gruppen Box Tops und Big Star zu Ruhm & Anerkennung gelangte, sind es vor allem seine vielfältigen Solo-Platten, die von den Anhängern der psychedelischen Musik bis zum heutigen Tag geschätzt werden. Im Jahr „77 erschien in New York die Chilton-Single „Bangkok“/ „Can’t Seem To Make You Mine“ — letzteres ein Stück der unvergessenen Seeds.

Diese beiden Songs sind Bestandteil der ausgezeichneten Doppel-LP LOST DECADE, auf der neben dem Musiker Chilton auch seine Rolle als Produzent dokumentiert wird. (Fan Club/New Rose/SPV. 6).

Apropos alte Männer: Die legendären Fugs, Polit-Hippies der ersten Stunde, haben sich reformiert. Tuli Kupferberg und Ed Sanders haben auf NO MORE SLAVERY nichts von ihrer intelligenten Bissigkeit verloren; ihr politischer Folk-Blues bezieht kompromißlos Stellung und bewahrt dabei viel Komik (New Rose/SPV, 4).

Zum Schluß einige Maxis: Pete Shelley setzt auf WAITING FOR LOVE (Mercury) seinen Electro-Beat mit warmem Herz und liebevollem Gesang fort (5).

Die Mekons geben sich auf den vier neuen Songs von CRIME AND PUNISHMENT (Sin/ Rough Trade) ziemlich folkloristisch (4).

Died Preltty aus Australien lassen mit ihrem hart-treibenden Psycho-Rock den toten Jim Morrison aus dem Grab steigen. NEXT TO NOTHING (What Goes On / EfA) beinhaltet sehr schöne Gitarren-Sequenzen (4).

Und Tack Head ist eine weitere, hypnotisierende Electro-Heavy-Funk-Formation aus dem Hause des Produzenten Adrian Sherwood. WHATS MY MISSION NOW? (ONU SOUND / EfA) ist unter Mitwirkung einiger Mark Stewart & Mafia Musiker entstanden und arbeitet mit ähnlicher Multi-Collagen-Technik (Soul-Dub). Dies ist die Musik der Neunziger, ohne Zweifel (5).

Und wer dann noch Zeit für autogenes Training hat, für den haben La Loora ihre ziemlich braven Versionen bekannter Pop-Klassiker auf WATER INTO WINE zusammengefaßt, von Bowies „Speed Of Life“ bis „Venus In Fürs“ von den Velvets (235/EfA, 3).