Rock-Spezialitäten

Während 1977/78 alles im Zeichen der Punk-Welle stand, erschien aus dem fernen industriellen Ödland von Cleveland/ Ohio kommend die merkwürdige Musik einer Band mit dem noch merkwürdigeren Namen Pere Ubu. Sie waren die erste Band, die gezielt die industriellen Klänge unserer Großstadtwelt in ihre Kompositionen einbezog und damit unzählige Gruppen beeinflußte. Oft schrieben sie einfache, ja lyrische Songs, garnierten diese mit Maschinenlärm und David Thomas‘ gequälter Stimme und machten Singles daraus, die kaum ein Radio-DJ anrührte, waren es doch eher Zerrbilder denn Mainstream-Pop.

All diese vergessenen Juwelen (darunter „Final Solution“, „My Dark Ages“, „30 Sees. Over Tokyo“. „Heart Of Darkness“) hat nun ein kundiger Fachmann aus den Londoner Rough Trade-Archiven gekramt und ein glänzend ausgestattetes Klappalbum daraus gemacht, das in dieser seballten Konzentration in jede Sammlung gehört: TERMINAL TO-WER ist die Essenz einer wirklichen innovativen Band (Rough Trade. 6).

Cpt. Beefheart würde seinen Hut ziehen, bekäme er Zoogz Rift zu hören. CrossCut-Rhythmen und verschrobener Gesang würden den Captain an seine jungen Jahre erinnern, doch über die eigenartigen Soli des Zwei-Zentner-Mannes auf der T-Bar-Guitar könnte er nur staunen. Ernsthaft: Die LP AMPUTEES IN LIMBO ist zwar schwer erhältlich, muß aber zu den interessantesten Werken kalifornischer Musik gerechnet werden. Ein Album, das nervt und swingt, positiv exzentrisch (Cordelia/Rough Trade, 5).

Plan 9, legendäre Gitarren-Band aus Rhode Island, haben ihre Garagen-Vorbilder über Bord geworfen, die oft chaotische Gitarrenfront eng in die Zügel genommen und mehr Zeit zum Songschreiben verwendet. So klingt KEEP YOUR COOL & READ THE RULES wie gute amerikanische Rock-Musik mit der Tendenz zum Durchschnitt. Nur Eric Stumpos feine Stimme und das abstoßende Mutanten-Cover erinnern an frühere, wilde Tage (Pink Dust, US-Import, 4).

Ihre ehemalige Psychedelic-Genossen aus New York, die Chesterfield Kings, blieben dagegen sich selbst, ihren Fans und vor allem den frühen Stones. Yardbirds, Chocolate Watch Band treu: Die LP STOP! ist eine perfekte Imitation der aufruhrerischen Musik der frühen 60er, ihr Cover hat den richtigen Stil, lediglich ihre Haare sind ein paar Fingerbreit zu lang für die Zeit. Sie sind Enthusiasten und sollten so weitermachen. (Mirror, US-Import. 4).

Nachdem mittlerweile etliche Live-Aufnahmen des Gun Club in miserabler Tonqualität auf dem Markt sind, erscheint mit DANSE KALINDA BOOM nun endlich ein von J.L. Pierce persönlich autorisierter Live-Mitschnitt. Dokumentiert wird der Auftritt beim Pandora’s Bo.v-Festiva), der Sound ist akzeptabel und neben Gun Club-Songs aus der Endphase gibt es „Preachin“ The Blues“ sowie zwei neue Tracks. (S.P.V.. 5).

Screamin‘ Jay Hawkins, der Mann, der „I A Spell On You“ komponierte, ist wieder aus dem Sarg und macht als Veteran New Yorker Bühnen unsicher, immer dabei sein schlangenverzierter Zauberstab mit Original-Totenschädel. Er singt nicht, er zelebriert seine Songs: purer, unzivilisierter Sumpf-Voodoo-Blues. Sehr akkurat die Begleitung der Fuzztones, die sich hier vielseitig genug zeigen, um der Psychedelic-Sackgasse zu entkommen. (Midnight International. 4)

Ebenfalls auf Midnight Int.. der Heimat von New Yorks Garagenprinzen, kommen Debüts von den Morlocks sowie den schwedischen Undertakers, die beiden auf ihre Art mit Stil und Songs der 60er umaehen, wobei bemerkt werden muß, daß der Geist der alten Seeds, Electric Prunes, 13th Floor Elevators u.a. möglicherweise auch totgepflegt werden kann. Gleiches gilt für die Singles von Plasticland („Flower Scene“) und The Tryfles („Your Lies“), die zwar gefallen können, doch nicht hängenbleiben, (alle: 3) Da freut man sich über Eugene Chadbournes Versuch, die ganzen Revivals ein wenig durch den Kakao zu ziehen: COUNTRY PROTEST ist eine grandiose Witzplatte ohne Supernasen-Terror. Der Gitarrist und Sänger Chadbourne spielte bei Shockabillv und kennt die US-Subkultur wie seine Westentasche. Angenehm auch das Wiederhören mit Lenny Kaye, der hier als Pedal Steel Gitarrist auftritt (Rough Trade Vertr., 4).

Hardrock gemischt mit Country-Elementen (manche nennen es CowPunk) kommt von Tex & The Horseheads auf der zweiten LP LIFES SO COOL, die dem Erstling an Wildheit nichts nachsteht. Zwar fehlt auch hier der Volltreffer, doch die heiße Texacala und ihre Jungs fetzen, was das Zeug hält. (Enigma Holland, 4) An dieser Stelle möchte ich mich Harald lnHülsens Jubel über die letzte Mark Stewart-Maxi anschließen. Mittlerweile ist die langerwartete LP AS THE VENEER OF DEMOCRACY STARTS TO FADE endlich erschienen und wird den hohen Erwartungen voll gerecht. Stewart zeigt, daß Maschinen und Computer-Musik keineswegs steril und technisch klingen müssen. Im Gegenteil: Auf dieser LP paart sich Stewarts gezerrter Gesangsstil mit einem fast oreanisch-zufällig anmutendem Pulsieren hochtechnologischer Klangsysteme. (Mute, 6)

Aus der Asche der Kult-New Wave-Band Clock DVA formte Sänger Adi Newton ein neues Konzept: The Anti Group. Ein Mitschnitt ihres Auftritts beim Berliner Atonal-Festival 1985 erschien unter dem Namen TAG/THE DELIVERY und bringt jazzige Improvisationen ohne Anfang und Ende, die auf LP leicht ermüdend wirken. Besser strukturiert klingt ihre Maxi „Ha“/“Zulu“, wo ein Baßlauf für Druck sorgt. (4)

Ganz anderer Pop kommt von einer kühlen Blondine namens Virna Lindt. Obwohl ihr Styling an die goldenen Zeiten der Carnaby Street erinnert, entspricht die Musik und vor allem Virnas Stimme auf PLAY/RECORD modernen Ansprüchen: perlende Melodien, Keyboards wie Engelsstauh — und dazu wispert die Kleine unschuldig von wilden Erdbeeren unter den Sternen, wo der Wind die Lieder pfeift. Für Tagträumer und ewige Junggesellen. (EfA-Vertr.. 5)

An die 30 junge englische Bands stellt der Sampier COMMUNICATE!! vor, alle live aufgenommen. Gruppen, deren musikalische Ergüsse entweder als „Genial“ oder „Unerhört“ eingestuft werden müssen. Doch wenn man sich durch vier Plattenseiten mittlerer Soundqualität durchgekämpft hat, wird man nicht länger behaupten können, der Londoner Underground sei tot. Diese Platte beweist das Gegenteil (RTD, 5).

A Witness aus Leeds haben einen Sänger, der kräftig versucht, Stil und Tonfall von Mark E. Smith zu treffen. Glücklicherweise hat er sein Vorbild gut studiert, so daß die Maxi LOUDHAI-LER SONGS zumindest Fall-Fans zu empfehlen ist. (RTD, 4)

Was soll man von einer Band halten, die peitschenden, adrenalinschwangeren Hard Rock ’n‘ Roll spielt und sich The Sid Presley Experience nennt? Egal was, denn die Band hat sich aufgelöst. Die peitschende Rhythmusgruppe arbeitet als Unholy Trinity weiter, ihre Maxi-EP bringt die erwartet wilden Versionen wenig bekannter Beatles-Tracks (3), während die Gebrüder Coyne als Godfathers die melodische Seite pflegen und mit der Maxi „Lonely Man“ eine Eigenkomposition vorlegen, die Spielzeit verdient hat (4, beide RTD).