Pere Ubu – The Modern Dance

Das Photo auf der Rückseite der Plattenhülle sagt alles: eine finstere Unterweltlandschaft, Fabriken, qualmende Schornsteine, Bahngleise, ein startendes Flugzeug, verrußter Himmel und auf der Eisenbrücke, die daran vorbeiführt,ein schwarz weißer Schatten – Spuren eines menschlichen Wesens. Erinnerungen an den Mensch von Hiroschima, der durch die Atomexplosion in den Stein eingraviert wurde. Eine hervorragende Illustration der Musik von Pere Ubu.

Cleveland/Ohio: Industrie-Metropole; die Stadt in den U.S.A., die sich am schnellsten entvölkert. Heimat von Pere Ubu. Jede Art von Rock-Musik ist niemals ein Kind des Zufalls, vielmehr die spontanste Möglichkeit, Lebensbedingungen und -gefühle einer Zeit emotional auszudrücken. Crocus Behemoth singt, spielt Hörn und schlägt Metall bei Pere Ubu: „Was wir vermitteln, erreicht Teile der Wirklichkeit.“ In der Tat. Pere Ubus erstes Album „Modern Dance“ ist die perfekte psychedelische Rock-Sinfonie unserer Zeit. Hier werden Töne/Bilder vermittelt, die nicht nur Ausdruck des Lebens in Cleveland sind. „Wir reproduzieren, was es bedeutet hier zu leben; wir erfinden nicht – wir übermitteln.“ (Crocus) Industrie/Maschinenlärm. Metall auf Metall – was Kraftwerk uns steril unter dieser Beziehung anbietet, bleibt ein synthetisches Studioprodukt. Anders Pere Ubu. Kein Schön-Kling-Klang, sondern unangenehme, aufreibende Musik. Nackte, rohe Fakten. Ein bißchen Wirklichkeit, wie wir sie kennen aus den verschmutzten/lärmenden/ menschenleeren/ unmenschlichen Industriestädten, die wir nach der Arbeit fluchtartig verlassen.

„Non-Alignment Pact“: ein stechend / quietschendes Geräusch. Der Modern Dance beginnt. Rauh verstärkte Gitarre, pumpender Baß, Schlagzeug. Ehe du bis fünf zählen kannst, platzt Crocus mit den Wörtern heraus, die fast unverständlich sind. Das macht aber nichts. Synthesizer-Feedback-Wellen krachen in Intervallen herein. Dieser Schneeballeffekt der Überton-Verzerrung zieht sich durch das ganze Album. Baß und Schlagzeug sorgen dafür, daß sie niemals ihren beat verlieren. Ein dichter Sound. Eiskalt. „Down to the bus/ into the town/ our poor boy can’t get around/ 8.55./ down at the show/ she leavers early/ he’ll never know/ ‚cause our poor boy believe in chance/ he’ll never get the modern dance.“ „Modern Dance“: Bohr-Hammer-Sound; immerwieder diese zischenden Synthesizer-Wogen, die aus dem Hintergrund in den Gesang und den teilweise atonalen Baß/ Gitarre/ Schlagzeug-Teil stürzen und ihn überlagern. Das alles läuft über in ein monoton sich wiederholendes „Never Never Never… .

„Street Waves“: doom doom doom skreeeeeee whirr thump whirr thump – lange Pause mit Nu1clear-Wind-Sound – doom doom doom. Statt: eeeeeeooooo ooooh, dem dir vertrauten Synthesizergeräusch, das mit den Tönen unserer Umgebung aber nichts zu tun hat. Die Luft ist dick und staubig; im Auto durch die Stadt fahren und die Straßen-Wellen spüren, das Schlagen und Bohren der Maschinen in den Fabriken. Ein städtisches Surfen – was die Beach Boys für Kalifornien, das sind Pere Ubu für Cleveland.

„I can’t think/ I need a drink/ life stinks.“ „Life Stinks“, der einzige Song auf dieser Platte vom Gründungsmitglied Peter Laughner, der im letzten Jahr an einer Überdosis starb. Ein ätzendes Stück mit Fragmenten aus „Metal Machine Music“, dazu der schnelle sich überschlagende Gesang. Bei Live – Auftritten bringt Crocus Schrott auf die Bühne, den er mit dem Hammer bearbeitet.

Auch die langsamen Stücke schrecken auf; die sechsminütige „Sentimental Journey“ bringt dich aus der Fassung (wenn du sie bis hierhin noch bewahrt hast) – sie überträgt eine Mischung aus Bedrohung und Paranoia. Crocus wimmert stumpfsinnig, während Milchflaschen zerbersten und Fensterscheiben klirren. Die Musik besteht vorwiegend aus Free Jazz-Elementen und Synthesizer-Wirbeln.

„Another day – suffer / well – that’s the way of the west / suffer -it’s just a joke, mon/ it’s just a joke – c’mon humor me…“. „Humor Me“ beschließt Ubus gespenstische Welt. Keine Depressionen – in einer expressiven Darstellungsweise vermittelt „The Modern Dance“ ein wirkungsvolles Spiegelbild unserer mechanisierten Welt. Eine Welt, die bedrohliche Formen annimmt, deren Maschinen, die wir selbst entworfen haben, uns zu verschlingen drohen. Eine unheimliche Begegnung mit der Wirklichkeit.