The Stranglers – IV
Vom medizinischen Standpunkt her ist die Diagnose klar. Das seit etwa einem Jahr unkontrolliert wuchernde Punk-Geschwür hat Metastasen gebildet. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien aufteilen: da sind zunächst einmal die gutartigen Wucherungen, die den Betroffenen ihrer puren Lautstärke wegen im Frühstadium nachhaltig erschrecken, sich aber im Laufe der Zeit erfahrungsgemäß von selbst zurückbilden – Marke Hot Rods, Damned, AC/ DC. Gefährlicher für den musikalischen Status Quo sind jene bösartigen Geschwulste, die sich in letzter Zeit immer häufiger bemerkbar machen. Sie scheinen sich auf ein längeres parasitäres Dasein im Rock-Organismus einzurichten und könnten diesen – weitere Zellteilungen vorausgesetzt – nachhaltig verändern. In den letzten beiden ME-Ausgaben konnten wir bereits über den „Television“- und den „Ultravox -Erreger berichten, und alle Anzeichen sprechen dafür, daß die akustische Bedrohung in der Tat epidemische Ausmaße anzunehmen droht. Im vorliegenden Fall gelang es uns erstmals,nicht nur den neuen „Stranglers“-Virus,sondern auch seinen Überträger zu ermitteln: ein Nagetier polarer Herkunft („Rattus Norvegicus“). Nun scheint von den in London beheimateten Stranglers eine nicht ganz so akute Gefährdung auszugehen wie von den beiden anderen genannten Gruppen. Ihre Fähigkeit, komplexe Klanggebilde voll teuflischen Hintersinns durch hynotischen, einfachen Beat zu tarnen, stimmt nichtsdestoweniger nachdenklich.
Woran kann man die Stranglers musikalischerkennen? Ganz einfach: Sie hören sich an, als hätten sie schon fünfzehn Jahre lang in den verruchtesten Lasterhöhlen jener Hafenviertel gerockt, wo der Schatten eines Mannes selten sein eigener und eine Frau billiger als eine Zigarette ist. „Goodbye Toulouse“ singen die Würger und erinnern sich grinsend: „I walked through streets of fear/ I washed these streets with tears.“ Vergossen werden vorzugsweise die Tränen jener Mädchen, die sich ihrem Männlichkeitswahn nicht willig unterwerfen.
Die verbale Verderbtheit der Würgerbande findet ihre musikalische Entsprechung darin, daß sie mit dem Urheberrecht zuweilen recht salopp umspringen. Die Art, mit der sie sich schon gleich beim ersten Titel („Sometime“) Keyboard- und Baßläufe des Doors-Klassikers „Light My Fire“ unter den Nagel reißen, ist schlicht skrupellos. Die Keyboards übrigens sind es, die im Stranglers – Sound gleichwohl charakteristische Akzente setzen: Um den durchgängig hämmernden Rhythmus weben sie großflächige Melodieteppiche, die zu schaurig -schönen Gitarrenkaskaden kontrastieren. Am Schluß vergluckert das faulige Klanggebräu unter Rattengekreische dort, wo es seinen geistigen Urspung hat: „Down In The Sewer“ – in den Großstadtkloaken.