Zum Tod von Steve Strange: „Er nannte sich Strange und ich nannte mich Steve“
Ein Dankeschön an ein Fabelwesen der Pop-80er, das am Donnerstag in Ägypten mit 55 Jahren von einem Herzinfarkt dahingerafft wurde: Es hat mir damals die Tür aufgehalten.
Ich wusste nicht viel von Steve Strange. Das Video von „Fade To Grey“ hatte ich vielleicht ein oder zwei Mal gesehen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, im Winter/Frühjahr 1981, da gab es noch nicht einmal „Formel eins“. Die „Bravo“ berichtete allerdings drauf los, als sich der Visage-Hit auf Platz eins der deutschen Charts setzte und dort für sieben Wochen einfach stehen blieb. Dieses in Theaterschminke getauchte Fabelwesen, von ernst dreinblickenden Pluderhosen-Ladys mit im eingefrorenen Zustand der Explosion befindlichen Frisuren umgarnt, war perfekt für das bunt bebilderte Teenagerheft, für Poster und Stickers. Für einen Jungen, der noch nicht ganz die Finger von seinen Spielsachen lassen wollte, aber langsam eine Ahnung davon bekam, welch geheimnisvoller Sog von Popmusik ausgehen konnte, war Visage hingegen ein perfekter Türöffner.
Ich nannte mich „Steve“, als meine Lehrerin in der Fünften den Englischunterricht damit zu versüßen versuchte, dass sich jeder Schüler ein englisches Alias zulegen durfte. Mir kam erst gar nicht in den Sinn, dass es endlos öde und schreiend unoriginell sein könnte, sich bei dieser einmaligen Gelegenheit einen Namen zu geben, den mindestens drei Jungs in meiner Jahrgangsstufe für den Rest des Tages durchs Klassenzimmer und über den Pausenhof trugen: Stefan. Ich dachte dabei nur an Steve Strange. „Strange“ dürfte eines der ersten Worte gewesen sein, das ich im Wörterbuch nachschlug. Wow, dieser Typ hatte offensichtlich an alles gedacht bei der Schöpfung seiner mysteriösen Aura!
Aber eigentlich brauchte ich diesen Zirkus drum herum gar nicht. Das Zischeln der Drumbox, die irrlichternden Synthietöne und das kalte, schneidende Sequencer-Riff schon im Intro von „Fade Grey“ sind mir bis heute genug, um immer noch das Gefühl zu haben, an einem großen Geheimnis teilhaben zu dürfen. Dass Visage ein One-Hit-Wonder blieben und die „Bravo“ sich bald schon anderen Boys mit Rouge auf den Wangen widmen sollte, war mir egal. Ich war zum Entdecker geworden im Abenteuerland Pop und hatte Schätze zu heben. Darunter eben auch die Alben von Visage, die es bald als Nice-Price-Angebote bei irgendwelchen Mailorders gab. Es war weit und breit kein weiteres Stück wie „Fade To Grey“ auf diesen drei Schallplatten zu hören, aber mit etwas Nachsicht sprangen schon noch ein paar düstere Schleicher mit geflüsterten Textstellen und gerade noch erträglichen Saxophonsoli heraus. Später erfuhr ich, dass Steve Strange eher Imagestifter, Ideengeber und eben tatsächlich eine Art Fabelwesen der Londoner New-Romantic-Szene als echter Musiker war, was mich als jemanden, der inzwischen eindeutig zwischen Interpret und „richtigem Künstler“ unterschied, nicht ganz kalt lassen konnte. Und dass er David Bowie als Weißclown verkleidet hatte, konnte man ihm fast schon übel nehmen.
Im Juni 2005 stehe ich an einem Nachmittag auf einer eingezäunten Wiese in Brandenburg und schaue dem Tocotronic-DJ-Team, das damals glaube ich aus Rick McPhail und Jan Müller besteht, beim launigen Auflegen in einem Brausehersteller-Stand zu. Das etwas uninspiriert in die weite Landschaft gepflanzte „Berlinova“-Festival hat sonst nicht viel zu bieten. Plötzlich legen sie „Face To Grey“ auf. Ich bin für einen Moment wie elektrisiert. Es ist schon wieder geschehen.
Ich weiß nicht viel von Steve. Nur, dass er vor 34 Jahren einen Knopf bei mir gefunden hat, auf den man beliebig oft drücken kann. Und fast immer passiert dasselbe. Ich mag dieses Gefühl. Danke, Steve.