Camille: Music Hole
Diva, Kind, Tierstimmenimitatorin, Human Beat Box - im Mai veröffentlichte die französische Pop-Chanteuse Camille ihr drittes Album MUSIC HOLE. MUSIKEXPRESS- Leserin Sonja Lesniak über ein überraschendes Kunstwerk.
Camille ist eine französische Sängerin. Sängerin ist sie von ganzem Herzen. Darüber hinaus ist sie auf ihrem neuen Album MUSIC HOLE auch Diva, Kind, Tierstimmenimitatorin, Human Beat Box und so einiges mehr. Denn Camilles Stimme spielt fast alle Rollen selber in diesem Spektakel: Sie haucht, krächzt, quietscht und quäkt. Mehrfach übereinander gelegt ergibt sie ganze Chöre. Aus geflüsterten Wörtern werden Geräusche, aus Geräuschen wird Rhythmus. Rhythmus, so demonstrieren Camille und ihre Gastmusiker eindrucksvoll, kann man nämlich aus allem machen: aus dem Platschen von Wasser ebenso wie aus dem Herumtrommeln auf dem Klaviergehäuse oder dem eigenen Körper.War der Vorgänger LE FIL (2005) eine sensible Innenschau, entwickelt aus einer einzigen Note als Grundton aller Lieder, so zelebriert MUSIC HOLE gerade die Vielheit von Tönen und Musikrichtungen. Dabei bedient sich Camille erstaunlicherweise bei solch wenig extravaganten Genres wie dem radiofähigen Soul und R’n’B. Aber auch Gospel, Arie und natürlich Chanson gehören zu ihrer Bandbreite. Das, was daraus entsteht, ist nicht etwa eine öde Aneinanderreihung von Vokalakrobatikstücken, sondern es ist eine originelle und überraschende Weiter- entwicklung der Stile. Camille versteht es, das Kunstvolle der Popmusik freizulegen und das Triviale zu parodieren.Die auffälligste Neuerung und ein häufiger Kritikpunkt ist sicherlich die Sprache: Camille singt nunmehr weitestgehend auf Englisch, der Sprache des Pop. Dies mag ein Tribut an den Markt außerhalb Frankreichs sein – aber selten biedert sich jemand dem Mainstream so charmant und auch so dreist an. „If Dolly Parton wrote it, and Whitney Houston stole it, if Celine Dion could reach it, I’ll hit the money note“, heißt es da zum scheppernden Takt fallender Geldstücke.Allerdings ist die Ironie einiger sich immer höher schraubender Gesangsparts kaum zu überhören und nicht ganz leicht zu ertragen – eine Kapriole, die man gestatten muss. Wer dies nicht kann, wird diese Platte wohl insgesamt als ein allzu gekünsteltes Experiment erleben: übertrieben, albern, kapriziös. Alle anderen werden sie wegen eben jener zwischen Tragik und Albernheit schwankenden Verspieltheit lieben. Auch an die erhabene Größe des Vorgängers kann das aktuelle Album nicht heranreichen. Ein Kunstwerk ist MUSIC HOLE trotzdem.
Sonja Lesniak – 23.09.2008