VIEL ZU 90ER


Neulich WITH LOVE, das vierte Album des Londoner Produzenten Zomby, gekauft. Seiner Bedeutung entsprechend als fettes Dreifachvinyl. Die Bedeutung von WITH LOVE: vielleicht der Kulminationspunkt der Bassmusiken, ein Patchwork, eine 33 Tracks starke Miniaturen-Sammlung, mit der die losen Enden von Dubstep, UK Garage und Breakbeat zusammenlaufen und sich zu einem minimalistischen Meisterwerk verbinden. Plattenhändler sagt beim Aushändigen des Vinyls:“Das ist mir zu neunziger“. Ich verstehe, was er meint, aber dieses Verständnis stört nicht mein Empfinden für WITH LOVE.

Viel später VAPOR CITY, das aktuelle Album des normalerweise hochgradig verlässlichen amerikanischen Produzenten Travis Stewart aka Machinedrum, angehört. Zunächst entsetzt reagiert auf die cheesy 90er-Jahre-Jungle-haftigkeit dieser Musik und anschließend das Vorgängeralbum ROOM(S) (grandios) wieder aufgelegt.

So hat jeder seine eigene Vorstellung von den Neunzigern und davon, was damals gut war und was nicht. Vor allem wird diese Vorstellung davon geprägt, wie man dieses Jahrzehnt erlebt hat – und ob überhaupt. Wer etwa 1993 geboren wurde, dürfte wahrscheinlich freier und offener mit der Musik seines Geburtsjahres umgehen, als einer, der damals schon 20 oder 30 Jahre alt gewesen ist. Weil diese heute 40- bis 50-Jährigen das gute Recht haben, der Musik ihre Rezeptionsgeschichte vorzuwerfen, wenn sie sich etwa unwohl fühlen, Teil jener Gemeinschaft zu sein, die damals „Rhythm Is A Dancer“ auf Platz 1 der Single-Charts gekauft haben.

Der Teufel des 90er-Revivals wird seit Jahren an die Wand gemalt – weil die Andie-Wand-Maler chronologisch logisch denken und der Meinung sind, dass nach den Achtzigern (ongoing, wie man weiß) irgendwann endlich die Neunziger wiederkommen müssen. Aber das Revival materialisiert sich nicht so recht. Es durchdringt die aktuelle Musik in Spurenelementen. Irgendwann wird es dann plötzlich da sein. Und es wird bleiben für immer und immer und immer. So wie alles.