Die Göttinnen von Göteborg: Was wir auf dem „Way Out West“-Festival erlebt haben
Das Schöne an Stadt-Festivals ist, dass man sich als Besucher mal nicht wie ein Aussätziger vorkommt, der mitsamt seiner Bierdosen-Bande ins gott- und mobilfunknetzlose Outback verbannt wurde. Das „Way Out West“-Festival in Göteborg lässt einen dafür darüber nachdenken, wie weit sich sogar Rockfestivals zivilisatorisch fortentwickeln lassen. (Und ja, The Cure haben dort auch gespielt.)
Wir sitzen hinter dem hohen Fenster der Boule-Indoor-Bahn in der Altstadt gleich hinter der Fischkirche und betrachten die dünnen, dicken, dann wieder fadenförmigen Tropfen, die sich aus dem Himmel stürzen. Und dann erzählt uns der irre freundliche, schwedisch-blonde Urban-Wikinger im Service, dass er bis 2018 neun Mal in Folge auf dem „Way Out West“-Festival gewesen sei – „und es hat jedes Jahr mindestens an einem Tag geregnet“.
Richtig gutes Ölzeug
Wer in der zweitgrößten Stadt Schwedens ein Open-Air besuchen möchte, muss sich also im Klaren darüber sein, dass er ziemlich sicher nass gemacht wird. Das einheimische, im Durchschnitt auffallend junge Publikum des „Way Out West“ kann so allerdings auch demonstrieren, dass es sich nicht nur in zuweilen sagenhaften knappen, neonfarbenen, mit schwerem 90s-Einschlag gemusterten und geschnittenen, eher club- als freilufttauglichen Outfits zwischen das pittoreske Sattgrün und die Ententeiche des Slottsskogen (Schlosspark) traut, sondern eben auch zuverlässiges und farbenfrohes Ölzeug im Schrank hängen hat.
Von Indie zu Cardi
„Urban“ ist das erstbeste/bestgeeignete Stichwort, um den Programmschwerpunkt des „Way Out West“ zu beschreiben. 2007 noch als relativ eindeutiges, allerdings von Beginn an deutlich ambitioniert kuratiertes Indie-Rock-und-Pop-Festival gestartet (bei der Premiere stand aber auch schon ein gewisser Kanye West mit auf der Bühne), öffnete und bewegte sich die Veranstaltungsreihe über die Jahre hinweg stilistisch immer weiter. Und längst trägt es der Entwicklung Rechnung, dass die Stars der Jugend vor allem in Genres wie HipHop, R&B und Neo-Soul zu finden sind.
Dass den Machern relativ kurzfristig und ohne weitere offizielle Angabe von Gründen Miss Cardi B als Headliner abgesprungen ist, ist dann auch ein Schlag ins Kontor. Mit Jorja Smith springt zwar ein anderer echter Shootingstar ein. Die Engländerin stellt dabei ihre prächtige Soul-Stimme in den Mittelpunkt ihres Auftritts. Aber ein richtiges Spektakel wie das zu erwartende der aktuellen Königin des US-Rap vermag sie nicht zu liefern.
Das gilt schon eher für die Grime-1-Man-Force Stormzy, die sich vor ein paar Wochen mit ihrem auch politisch schlagkräftigen Headliner-Auftritt beim Glastonbury quasi unsterblich gemacht hat und mit kaum mehr als einem DJ und einer ausdrucksstark bespielten Videoprojektionswand Tausende zu bannen weiß. Im für britische Einflüsse traditionell weit offenen Westen Schwedens feiert der Rapper aus London fast schon ein Heimspiel.
Aktuelle, spannende Musik = hoher Frauenanteil
Ansonsten geben aber vor allem Frauen den Ton an auf dem „Way Out West“. Das Festival stellt sich und seinem Publikum (bei dem der weibliche Anteil eher noch zu überwiegen scheint) bereits zum dritten Mal genauso viele weibliche wie männliche Acts auf die Bühne – das ist auch gar nicht so schwer, wenn man sich vor allem Musik verschrieben hat, die man im besten Sinne als zeitgenössisch bezeichnen kann. Und es bucht offenkundig gezielt auch Musikerinnen, die in ihrer künstlerischen und darüber hinaus öffentlichkeitswirksamen Arbeit emanzipatorische Wege gehen.
So bleiben von diesem Wochenende vor allem der sowohl musikalisch wie auch durch seinen zuweilen performanceartigen Charakter herausfordernde Headliner-Auftritt von Solange (Knowles) in Erinnerung. Dass diese Frau kaum weniger Superstar-Power und -Souveränität als ihre Schwester besitzt, sich aber eben für eine deutlich komplexere Ausdrucksweise entschieden hat, erscheint hier superoffensichtlich.
Der vor Kraft, Stolz und Leidenschaft strotzende Auftritt von Christine & The Queens mitsamt ihrer vollkörperlich agierenden Tanztruppe untermauert hingegen noch einmal, welcher Befreiungsschlag der Französin mit ihrer jüngsten Verwandlung gelungen ist: Raus aus der anerzogenen Scham, den für Geschlechter und Klassen vorgesehenen Mustern und Regeln! Sie ruft diese Botschaft als Zwischenansage auch noch einmal so atemlos wie strahlend ins fäustereckende Rund.
Badus Wunderland
Während Erykah Badu auf eine sehr einnehmende, beinahe autoritäre Weise deutlich macht, dass sie eindeutig mit spirituellen Kräften in Kontakt steht. Anders ist kaum zu erklären, dass ihre Band ihr beim Hakenschlagen durch ein scheinbar grenzenloses Wunderland des Soul, Funk, Jazz, HipHop und R&B instinktiv zu folgen weiß wie eine Zugvogelformation. Und dass sie selbst mit Lametta-Perücke unterm signalroten Regenmantel eindeutig wie eine (weitere) Göttin aussieht.
Solche gibt es natürlich ebenso in/aus Schweden. Für viele Jugendliche dort ist Silvana Imam auf jeden Fall eine. Auch wenn es definitiv helfen würde, ihre Texte zu verstehen – dass die dringliche bis dramatische Performance der litauisch-syrisch-schwedischen Rapperin mit ihrer antirassistischen, -rechten wie -homophoben Botschaft sehr viele Menschen schon am Nachmittag weit hochkocht, spricht für sich.
Alte, weiße Männer erscheinen
Sucht man alte, weiße Männer auf diesem Festival, wird man am ehesten noch am zweiten Festivaltag fündig. Auch im Publikum, was im Gesamtbild ein bisschen wirkt, als wären Töchter und deren Väter im Slottsskogen unterwegs, die sich aber wegen irgendeiner seltsamen Dimensionsverschiebung gegenseitig nicht sehen können und deshalb achtlos aneinander vorbei spazieren. Die Männer sind in Wahrheit aber nicht als Erziehungsberechtigte gekommen, sondern um noch einmal die einzige echte alte, große (weiße) Rockband im Programm (lässt man Spiritualized mal außen vor) zu erleben: The Cure.
Von denen hört man schon die ganze Festival-Saison lang, dass sie quer durch Europa in Massen selbst solche Menschen begeistern, die ohne ein einziges Pffft aus der Haarspray-Dose durch ihre Pubertät gekommen sind. Schlicht durch oldschooliges Auf-der-Bühne-im-Licht-und-Nebel-und-Getöse-Stehen-und-Rock-und-Pop-Songs spielen, die allerdings bis heute eine so besondere dunkle, dichte Atmosphäre und altmodische Melodiefreude verbreiten, nach der sich Armeen anderer Gitarrenbands über all die Jahre umsonst gestreckt haben. In Göteborg ist das nicht anders, das Publikum dabei zwar nicht superdicht gedrängt; dafür ein lächelnder Robert Smith in einer besonderen Sing- und Spiellaune und mit einem sechs bis sieben Sätze langen Mitteilungsdrang, wie man ihn bislang nur selten erlebt hat.
Feinstes Kleingedrucktes
Ob ein Open-Air tatsächlich inhaltlich was reißen will oder sich lieber auf risikoarme Routine verlässt, zeigt sich oft erst mit Blick aufs Klein(er)gedruckte auf dem Festivalplakat. Auch hier leistet das „Way Out West“ einiges und beweist fast schon einen pädagogischen Ansatz, wenn es zum Beispiel das legendäre Mali-Blueser-Paar Amadou & Mariam samt der unglaublichen, als (Gospel-)Gruppe seit 1939 (!) existierenden Blind Boys Of Alabama auf eine der beiden großen Bühnen platziert.
Einerseits mögen solche, zumeist eher aus Gelegenheit von Vorbeigängern besuchte Nachmittags-Slots von Acts, die (für Nicht-Musikhistoriker) kaum Anbindung zum restlichen Geschehen zu haben scheinen, ein wenig in der Luft hängen. Andererseits sind es dann eben doch geschätzte 2000 Leute, die zum Beispiel auch erleben, wie die 78-jährige Free- und Spiritual-Jazz-Legende Pharoah Sanders sich mit seinem Saxophon am Stock ans Mikrofon müht, um fortan Töne in die Freiheit fliegen zu lassen, denen sich auch nach über 50 Jahren keine Fesseln anlegen lassen (dass ausgerechnet die kürzlich wiedervereinigten Stereolab gleichzeitig auftreten, dürfte vor allem Stereolab selbst gestunken haben). Wenn da mal nicht ganz viel Gutes hängenbleibt …
Nur der Park schläft
Noch mehr Hängenbleiben erreicht das „Way Out West“ mit seinem Nacht-Programm (mit weiteren entdeckungswürdigen Acts wie Stella Donnelly, Soccer Mommy, Laurel Halo, Loyle Carner, Lafawndah etc.), das sich nach Sendeschluss im Park in den Clubs der Stadt fortsetzt, sowie mit seinem breiten Film-Angebot und zahlreichen Talks auf Nebenbühnen – bei einem 30000-Leute-Festival fragt man sich irgendwann, wer sich das eigentlich alles anschauen und -hören soll. Flunkyball spielt in Göteborg auf jeden Fall keiner und zum Besinnungslos-Saufen braucht man ohnehin eine ziemlich dicke Kreditkarte – die paar braunen Fläschchen, die hier und da kichernde Mädchen aus ihren Jacken klackern, genügen dafür bestimmt nicht.
Und während man sich dann irgendwann mit einer kleinen Probier-Tasse Ist-das-überhaupt-richtiger-Kaffee-keine-Ahnung-schmeckt-aber-ganz-gut-ja-auch-mit-Hafermilch auf einem Stück Birkenstamm niedergelassen hat (keine zwei Meter Marktstand ohne skandinavisches Design!), wirft dieses so wahnsinnig relaxte wie eben auch fordernde Festival immer weitere Fragen in einem auf wie: Sollte ich noch weniger oder am besten doch gar kein Fleisch mehr essen (das gesamte „Way Out West“ kommt seit Jahren ohne aus, selbst in der KünstlerInnen-Speisung)? Sind Nikotin-Pastillen tatsächlich eine Antwort auf flächendeckende Raucher-Einpferchungen im öffentlichen Raum? (Eine kapitalistische auf jeden Fall.)
Und: Würde ich die dauerpräsente skandinavische Ordnung und Fürsorge weiterhin schätzen, wenn die Ordningsvakt-Kräfte, die in ihren zünftigen grauen Uniformen zwar aussehen wie die tölpeligen Häscher der Olsenbande, einem tatsächlich aber als Sicherheitsleute auch noch früh um 2 mitten im Club über den Weg laufen, plötzlich auch noch am Frühstücksbüffet im Hotel auftauchen (Zuckerkontrolle?)?
Waffeln statt Waffen!
Und dann beißt man einfach in seine Tasse. Nicht aus dem Übersprung handelnd oder wegen dem letzten bisschen Punk im Herzen, sondern weil die aus Waffel ist. Kompostier- oder eben verputzbar. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese Schweden einen Weg gefunden haben, wie man ihr ganzes Festival Samstagmitternacht, nach dem letzten Ton aus den Lautsprechern, einfach aufessen kann. Denn machen wir uns nichts vor: Sie sind uns Lichtjahre voraus.