Hotlist 2013
Schon mal zum Vormerken: die Künstler, die diesem Jahr ihren Stempel aufdrücken werden. Damit man dann, wenn alle über sie sprechen, milde abwinken und lächelnd „Schnee von gestern“ sagen kann.
Wie ein 18-Jähriger den uralten Beruf des Singer/Songwriters neu erfindet.
Der Berliner Crystal Club wird zwar als Club geführt, ist aber nur der Anbau eines Clubs. Ein Séparée, auf dessen flacher Bühne man als Musiker nicht kleiner sein darf als die Gäste. Als Jake Bugg im Crystal auftritt, ist er kaum zu sehen. Seine Songs trägt er energisch vor, er reckt den Hals. Und manchmal taucht sein mürrisches Gesicht kurz zwischen gönnerhaft wackelnden Hinterköpfen auf. Bei seinem ersten Deutschland-Gastspiel ist er 18, seine Zuhörer sind älter. Sie begrüßen ihn als Wunderkind des kommenden Musikjahres mit väterlichem Raunen. Bugg singt selbst geschriebene Songs wie „Country Song“ über die Vorliebe für Countrysongs und rostige Gitarren. Vor ihm stehen einige, die ihn am liebsten auf der Stelle adoptieren würden.
Aber vielleicht schafft Jake Bugg es mit seinem Debütalbum Jake Bugg, dass niemand mehr die Altersfrage stellt, nach 60 Jahren Rockmusik: Den Alten wird heute ihr Starrsinn vorgeworfen und den Jungen, dass sie musizieren wie die Alten. „Ich bin einen Tag älter als Justin Bieber“, sagt Jake Bugg, als er am Morgen nach dem Auftritt müde im Büro der zuständigen Plattenfirma lümmelt: „Einen Tag!“ Er kichert. Was auch immer das bedeutet, wenn einer mit 18 14-Jährige um den Verstand singt und der andere 40-Jährige: Von beiden wird man auch in Zukunft hören. Auch für Bugg begann alles auf YouTube. Als das Jahr 2012 anbrach, stand er in seinen Videos herum und krähte „Trouble Town“ wie Tausende von Teenagern, die täglich irgendwelche Klassiker in ihre Webcams singen. „Trouble Town“ klang nach der Frühphase Bob Dylans, stammte aber von Jake Bugg. Und kein Jahr später bietet Amazon „Two Fingers“ von Jake Bugg als Karaoke-MP3 zum geldpflichtigen Download an.
Da sitzt er also auf Geheiß des Weltmarktführers Universal und starrt lieber auf sein Telefon, als über sich und seine Songs zu reden. Noch viel lieber geht er rauchen. Er wirkt wirklich winzig. Bugg trägt eine hochgeschlossene taubenblaue Filzjacke, wie sie nur Maoisten tragen können, Liam Gallagher oder Paul Weller. In seiner Garderobe drückt sich eher der Lad-Rocker aus als der Folkie. „Seit ich einen Plattenvertrag habe, kann ich anziehen, was ich will“, sagt er. „We are the only thing that’s pretty“, singt er über Nottingham in „Trouble Town“. Britischer kann ein Sänger sich nicht ausdrücken: Die Heimatstadt ist unansehnlich, die Gesellschaft feindselig, aber der Parka sitzt. Daheim wird nun seit Monaten über die Referenzen debattiert, die Bugg zu seinen Songs getrieben haben. Dabei ist die Fachwelt sich noch uneins: Steckt mehr Buddy Holly in Jake Bugg oder mehr von den Arctic Monkeys? Mehr Amerika als England? Und vor allem: Wo hat er das alles her, was er so spielt und singt?
Jake Bugg sagt: „Von den Simpsons.“ Man darf sich bei 18-Jährigen nie sicher sein, aber das ist kein Scherz aus Notwehr. Ernst fügt er hinzu: „In einer Folge lief ein Song von Don McLean. Kennen Sie ‚Vincent‘? Seither weiß ich: So was will ich auch machen, mein Leben lang.“ In „Vincent“ geht es um Van Gogh, um Kunst und Wahn. In der 307. „Simpsons“-Folge versucht ein Wissenschaftler in Springfield, Grundschüler für die Rätsel der Astrophysik zu begeistern. Don McLean begleitet Bilder von Meteoritenschauern. Bugg erinnert daran, dass die Folge „‚Scuse Me While I Miss The Sky“ hieß, ein Zitat aus „Purple Haze“ von Jimi Hendrix. Seit die Jugendkultur nach dem Krieg erfunden worden war, wurde das Jungsein überhöht. In Songs wurde empfohlen, zeitig abzutreten, um dem Alter zu entgehen oder ewig jung zu bleiben. Heute wird die Jugend unterschätzt. Die Alten wärmen sich an den Erinnerungen an die Echtzeit. Sie wollen dabei gewesen sein, als sich Musik noch neu erfand. Die Plattensammlung ist ihr Zeugnis.
Aber vielleicht war die Jugend nie so popweise wie jetzt im Zeitalter der digitalen Retromania. Darauf haben auch schon kluge Männer hingewiesen wie James Murphy vom LCD Soundsystem in „Losing My Edge“: Der Vorsprung schmilzt dahin. Die Jungen nutzen ihre Quellen, die Musikgeschichte steht im Internet und wird vermittelt von Instanzen wie den Simpsons. „Die Musik ist überall“, erklärt Jake Bugg. „Je mehr Musik vorhanden ist, umso mehr Wege gibt es auch, sich mit ihr zu versorgen. Bei mir geht das so: Ich schnappe ein Stück auf, dann höre mich um. Was hatte dieses Stück für Einflüsse? Sieh an: den Rock’n’Roll der Fünfziger. Wo kam der her? Ach so: vom Blues. Dafür genügt das Internet. Aber es führt mich in die Plattenläden, wo ich mir die Platten kaufe, gern Vinyl. Ich rede mit den Händlern und mit meinen Onkeln. Was ich nirgends finden kann, besorge ich mir. Notfalls aus dem Netz.“ Er lauscht den vielen Worten nach, er nickt und sagt: „Du kannst den Zug erst sehen, sobald er an dir vorüberfährt.“ Mit anderen Worten: Die Jake Buggs haben sich damit abgefunden, dass sie der Musik und ihrer Zeit nie mehr voraus sein werden. Aber sie werden das Erbe eingehend betrachten und für sich das Beste daraus machen.
Wer dann wiederum Jack Bugg dabei betrachtet, wie er auf der Bühne steht, sieht den lebendigen Beweis, dass Menschen nicht nur länger jung bleiben, sondern auch früher altern. Als er zwölf war, zeigte ihm ein Onkel, wie man die Gitarre hält. Sechs Jahre später schlägt er sie im Westernstil wie Johnny Cash, zupft Ornamente wie Bert Jansch und lässt sich eine Fender Stratocaster reichen, um zu zeigen, dass er Jimi Hendrix nicht nur von den „Simpsons“ kennt. „Ich kenne alle seine Platten, ich höre sie immer wieder und übe dazu auf der Gitarre. Ich hätte nie Zeit gehabt, um Unterricht zu nehmen.“ Wenn er seine Lieder schreibt, lädt er sich Freunde ein. Sie trinken Tee und musizieren miteinander. Auf dem Album werden einige als Co-Autoren erwähnt. Hinter den mysteriösen Namen wurden schon erfahrene Ghostwriter vermutet. Niemand hat Jake Bugg entdeckt und optimiert. Es gab nur einen Studioinhaber in Nottingham, bei dem er seine ersten Demos aufnahm. Danach kamen schrittweise: das Internet, die BBC, eine EP, eine Bierwerbung und Noel Gallagher.
Mit Noel Gallagher’s High Flying Birds und Snow Patrol reiste Jake Bugg im Frühherbst durch Amerika. Das war sein Praktikum. Er sah den Bühnenprofis bei der Arbeit zu; er amüsierte sich, wenn Gary Lightbody in der Garderobe seine Stimmbänder erwärmte wie ein Opernsänger. Er trank heimlich Alkohol. Und er besichtigte die Gegenden, aus denen Nirvana oder Ritchie Valens stammten. Während er das Mutterland der Rockmusik durchfuhr und sich an Mehrzweckhallen gewöhnte, landete sein Album in der Heimat auf dem ersten Platz. Leona Lewis rutschte auf Rang zwei. Bugg machte kein Geheimnis aus seiner Genugtuung, seinem Triumph über die „X Factor“-Kultur, der „NME“ vermeldete: „The Time They Are A-Changin'“. Bugg wird von den Trend-Auguren auf eine Mission geschickt. Er soll die Charts von Casting-Opfern säubern, er soll Kinder dazu bringen, zur Gitarre und zum Stift zu greifen. Er soll die Musik retten, den Pop der älteren Männer. Ihm ist nicht ganz wohl dabei. Er hat nichts gegen zeitgenössische Musik, er will nur langfristig seinen Beruf ausüben, länger als 15 Minuten. Singer/Songwriter sind keine Spezies der Sechziger und Siebziger. Die Achtzigerjahre und der Postpunk brachten Billy Bragg hervor, die Neunziger und der BritPop hatten Badly Drawn Boy, in den Nullern schaukelte Pete Doherty mit der Gitarre durch die Landschaft. Und auch heute noch heißt Pop nichts anderes, als jung genug zu sein, um die Musik neu zu entdecken wie einen versunkenen Schatz. „Ein Song sollte sich selbst schreiben“, erklärt Jake Bugg, so feierlich wie das nur 18-Jährigen gelingt. Bald wird ihn auch die Jugend lieben.
Für den Einmarsch im Berliner Club hatte er einen Song gewählt von 1936, Robert Johnsons „Cross Road Blues“: Ein junger Musiker schließt darin einen Teufelspakt. Jake Bugg schüttelt den Schopf und grinst. „Ist einfach bloß ein geiler Song“, sagt er.