Mein lieber Herr Gesangsverein
Harriet Köhler singt - und als Schriftstellerin ist das auch ok.
Das Volk singt wieder! Und es ist ihm nicht mal peinlich! Hätte man mich gefragt, wüsste man das schon längst, so durfte es eben kürzlich das altehrwürdige Feuilleton der Zeit vermelden. Früher gehörte eine Marx-Gesamtausgabe in die Altbauwohnung, jetzt darf es gern auch mal „Das große Liederbuch“, illustriert von Tomi Unger sein. Volkslied-CDs liegen bei Saturn plötzlich stapelweise rum, mitten zwischen Peter Maffay, James Blunt und The Dome 56. In dem Artikel wird natürlich sofort Adorno herbeizitiert, es wird von einer „non-virtuellen Betätigung der Generation Facebook“ gesprochen, vom Singen als „Gegengift zum digital und ökonomisch befeuerten Ich-AG-Individualisierungsfuror“ und davon, dass die Ohrwurmqualitäten von Volksliedern unter Musikern nie wirklich umstritten gewesen seien, bislang bloß die hochwertigen Aufnahmen fehlten. Jetzt gibt es sie, endlich, mit Streichquartett- und Klavierbegleitung.
Jetzt sind Zeit-Redakteure ohne Zweifel wahnsinnig kluge Menschen, aber ich glaube, dass der Autor des Textes in diesem Fall nicht ganz recht hat. Ich zumindest habe schon immer gesungen. Ja, hier an dieser Stelle bekenne ich frank und frei: Ich singe! Warum, weiß ich auch nicht so genau. Irgendwie befreit es die Lungen.
Dass Singen peinlich ist, weiß ich natürlich auch. Jeder weiß das. Wenn man zum Beispiel einen Film einschaltet und darin einen Menschen singen sieht, dann handelt es sich a) um ein Musical, oder b) um eine romantische Komödie, in der die Heldin Liebeskummer hat, einen Pyjama trägt und statt in ein Mikrophon in eine Haarbürste hineinwimmert. Es sind immer die Sänger, die wirklich singen, die also nicht nur Stücke performen, sondern liebliche Melodien in die Luft steigen lassen, die auch am härtesten gedisst werden – man denke nur an Mariah Carey, Whitney Houston oder Heintje. Einer schlecht schauspielernden Sängerin verzeiht man viel, aber wehe, wenn eine Schauspielerin eine CD rausbringt! Wer singt, macht sich emotional nackig, angreifbar und verletzlich. Deshalb singen so viele Menschen im Chor und nicht auf CD, oder schlimmer noch, auf offener Straße. Ja, der Gesangsverein ist in Wirklichkeit so etwas wie ein musikalischer FKK-Club, eine Gruppierung sozialer Außenseiter mit seltsamen Vorlieben, denen man meist noch andere Gründe unterstellt als bloß den, gern unter seinesgleichen zu sein.
Ich singe meistens allein. Ich singe beim Autofahren, beim Wäscheaufhängen und wenn ich den Müll runter bringe. Wenn ich betrunken bin, singe ich laut auf der Straße. Neulich saß ich auf dem Klo und hörte Gelächter aus dem Vorraum – ich hatte unbemerkt „Er steht im Tor“ von Wencke Myhre vor mich hin gesungen. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich zu „Paradise City“ mit dem Kopf wackle und mit den Armen zucke, während ich, sagen wir, die Nudeln umrühre. Ich bin das Vorbild aller Heldinnen in romantischen Komödien. Ich bin sogar noch schlimmer. Wenn ich singe, dann singe ich sogar die Instrumente mit, Schlagzeug wie Posaune. Ich brauche gar keine Karaoke-Maschine, ich bin selber eine! Und: Ich singe alles, ohne Pardon. Ich singe Lieder von Wham! und Mariah Carey. Ich singe „Milkshake“ von Kelis und das Lied der Fraggles. Ich singe sogar Sigur-Rós-Sachen, was gar nicht so leicht ist. Aber natürlich machen Volkslieder am meisten Spaß. Wahrscheinlich, weil sie keine Begleitung brauchen, die man auch noch mitsingen muss.
Neulich habe ich mir übrigens eine dieser „hochwertigen Aufnahmen“ deutscher Volkslieder gekauft, ich will jetzt nicht sagen, welche. Mehr als zwei, drei Lieder habe ich leider nicht geschafft. Die Interpreten versuchen darauf, etwas in E-Musik zu verwandeln, was eigentlich nur geschmettert werden will. Das, was dabei raus kommt, erinnert in fataler Weise an erotische Kostümfilme mit aufwändigen Landschaftsaufnahmen und gedrechselten Dialogen, bei denen so getan wird, als stünde das Ästhetische im Vordergrund, während es doch eigentlich, wie in jedem Porno, nur ums, Verzeihung, Ficken geht. Wenn man mich mit einer solchen CD erwischte – das wäre mir peinlich, sonst nichts.
Harriet Köhler
Die Schriftstellerin hat ihren letzten Roman „Und dann diese Stille“ bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht. In der nächsten Ausgabe schreibt an dieser Stelle Ariadne von Schirach.