Boom Box


Die Hip-Hop-Kolumne von Davide Bortot

Auch genervt von vier Wochen Vuvuzelas, RTL und den Fehlpfiffen von Blatters Stimmvolk? Wie gut, dass sich völlig unvermutet ein alter Bekannter zur alternativen Freizeitgestaltung anbietet: Hip-Hop erlebt seine aufregendsten Wochen seit Menschengedenken. Der junge Kanadier Drake etwa (siehe „Boom Box“ ME 4/2010) hat direkt im ersten Anlauf einen modernen Klassiker hingelegt, mit seinem charismatischen Emo-Rap zwischen volltrunkenem Größenwahn und ewig ungestilltem Lebensdurst („Thank Me Later“). Eminem hat endlich wieder einen Grund, Eminem zu sein, und folgerichtig das beste Album seiner Karriere in den Läden. Und sogar sein einstiger Entdecker Dr. Dre hat sich von der allgemeinen Aufbruchsstimmung mitreißen lassen und der seit sechs (!) Jahren darbenden Szene das erste Stück aus seinem designierten Opus Magnum DETOX zugeführt. „Under Pressure“ featuret standesgemäß Jay-Z, den Präsidenten von Hip-Hop-Hausen.

Inmitten all diesen Spektakels veröffentlichen nun die Roots ihr neuntes Studioalbum. Immer wieder hatte Drummer und Rudelführer ?uestlove zuletzt durchblicken lassen, mit der Aufnahmekarriere des Kollektivs aus Philadelphia gehe es in absehbarer Zeit zu Ende. Als staatstragende Abschiedsbotschaft ist HOW I GOT OVER dennoch nicht zu verstehen – vielmehr als weiteres Steinchen im Aktivitätenmosaik der Altmeister, die sich den Realitäten der 2.0-Welt konsequenter angepasst haben als alle buntgewandeten Jungspunde der ADD-Generation. Das täglich Brot schafft der Job als Hausband des Late-Night-Talkers Jimmy Fallon heran, ?uestlove gibt als DJ und via Twitter den Geschmacksfilter und permanenten Ansprechpartner für die Fans, die Liveshows sind in ihrer Intensität nach wie vor unerreicht.

HOW I GOT OVER dagegen klingt angenehm nach Auszeit von dieser Alltagsmühle, nach einer Landhaussession mit guten Freunden an der Küste Kaliforniens: eine im Grundton melancholische, im Inhalt durchaus ernste, dennoch spontane, warme, leichte Popplatte. Hier wird die Harfenistin Joanna Newsom gesampelt, dort gibt es Obama-Blues aus der Bordsteinperspektive. Hier gastieren die Dirty Projectors, dort der neoklassizistische Forum-Liebling Phonte. Hier erinnert sich der junge Blu an die „Radio Daze“, dort appelliert der fast 40-jährige Black Thought, dass das Feuer im Herzen nie aufhören möge zu brennen. HOW I GOT OVER ist Musik zur Zeit. Und weil sich ihre Schöpfer längst gelöst haben von der Vorstellung, mit jeder Platte die Welt neu erfinden oder auch nur mehr verkaufen zu müssen als mit dem Vorgänger, klingt sie unbeschwerter, eingängiger, frischer, besser als je zuvor.