„Explosion Des Hedonismus“
Der DANCE der 90er ließ Rocker und Raver erstmals mit- und nicht mehr gegeneinander feiern.
Beginn bis Mitte der 90er herrscht noch Lagerspaltung: In Jahresrückblicken des ME wird das „Jahr im Dance“ noch isoliert vom „Jahr im Rock“ betrachtet. Der Manchester-Rave wirft in Deutschland grade mal zwei, drei Hits in die selbstverwalteten Jugendzentren, und Eurodance, „jene hochkommerzielle Mischung aus harten Techno-Beats made in Germany und gnadenlos auf Hitparadentauglichkeit hinkomponierten Ohrwurm-Melodien“ (ME 96), tut sein Übriges, um Rockfans in ihren Vorurteilen zu bestärken. Der ME bringt große Artikel über die Love Parade, über Sven Väth – doch wirken diese in einem Magazin, auf dessen Titel meist ein hauptberuflich rock’n’rollender Mann abgebildet ist, wie Reportagen über exotische Länder. Zur Jahrzehntmitte setzt die Annäherung ein: Jungle (M-Beats WICKED ALBI’M wird mit fünf Sternen besprochen), Trip Hop (1995 Dreiseiter über die Szene Bristol) und Drum n’Bass (Goldies namensgebende Fresse bildet man allzu gerne ab) machen die Mauer zwischen den Publiken einsturzreif. Die „Twisted Firestarters“ haben ab 1996 leichtes Spiel. Die Abrissbirne Big Beat muss nur noch sachte an die Mauer klopfen, schon feiern Rocker und Raver in nie gekannter Eintracht. Mittendrin im Getümmel: der ME. Bereits 1994 ist ihm The Prodigys „Crossover aus Techno und Grunze“ MUSIC FOR THE JILTED GENERATION fünf Sterne wert. Zwei Jahre später lobt man Underworld, die auf SECOND TOUGHEST IN THE INFANTS „die Stilgrenzen zwischen Techno und Rock endgültig aufheben“, und holt sie in den vorderen Heftteil. 1997 zelebriert man The Chemical Brothers, die auf ihrer Platte des Monats D1G YOHR OWN HOLE „weder Gesang noch vordergründige Gitarren“ brauchen: „Gekonnt eingesetzte schrille Samples und verzerrte Loops machen nicht nur unbelasteteren, sondern auch härteren Rock. “ Im Sommer 1997 hieven The Prodigys THE FATOFTHE LAND das Genre dann auf ein für unmöglich gehaltenes Level: Nr. 1 in USA, UK, Deutschland, Japan. Der ME kürt das Album zur Platte des Jahres (vor OK COMPUTER!), hebt Keith Flint viermal in anderthalb Jahren auf den Titel. Der künstlerische Gehalt des Werks wird aber bereits damals erkannt: „Ihren Platz im großen Buch der Popkultur haben Prodigy sich mit diesem Album endgültig gesichert: Gleich neben Super Mario, Red Bull und Dennis Rodman.“ Ein Jahr hält der Hype noch an: 1998 heißt die Platte des Jahres YOUVE COME A I.ONG WAY. BABY und stammt von Fatboy Slim: „Jeder Ton auf YCALWB schreit das unbegrenzte Glück heraus über die auf rund 50 Stunden begrenzte Explosion des Hedonismus im grauen proletarischen Alltags.“
Zur gleichen Zeit jedoch experimentiert Grönemever mit harten synthetischen Drumsounds, und die formelhaften Apollo 440 beenden die Revolution. 1999 ist für alle, die nicht noch zur Aftershow mit Leftfields RHYTHM & STEALTH (Platte des Monats im ME 10/99) blieben, wieder Montag. Aber die Grabenkriege zwischen den Genres sind seither ein Fall für die Geschichtsbücher.