Rock Am Ring Nürburgring, Eifel
80.000 Fans und (die meisten der) 90 Bands feiern einen hart erkämpften Sieg gegen den Sommer, der ein Winter ist.
Es ist in doppelter Hinsicht ein Rekordwochenende: das am schnellsten ausverkaufte Festival am Ring aller Zeiten, und, wie die Wetterdienste hernach vermelden, das kälteste Wochenende seit 30 Jahren. Draußen wehen bereits ziemlich nasse Winde, gut geschützt im Clubtent legen Hockey lässig los: Gut gelaunt stellen die Amerikaner dem anfangs skeptischen, bald begeisterten Publikum die lockeren Dance-Pop-Highlights aus dem kommenden Debütalbum vor. Überhaupt profitiert das Clubtent von den gefühlten Minusgraden draußen: Auch die Bands des Soundwave-Discovery-Wettbewerbs von Cokc erfreuen sich deshalb einer absolut Festival-würdigen Kulisse. Gleich darauf fängt Newcomer Ben Esser sein Publikum am Auftaktnachmittag schnell mit seiner „Headlock“. Die rhythmischen Arrangements verleiten zum Tanzen, während Essers Frisur für genügend Gesprächsstoff sorgt, um auch zufällig Anwesende zu fesseln. Esser spielt einen perfekten Rausschmeißer für jeden Clubabend: „PleascStop Daneing“ – nicht zum Schluss, aber als späten Höhepunkt. Nach einem Jahr Pause kehren Placebo auf deutsche Bühnen zurück, und es ist, als wären sie nie weg gewesen. Brian Molko sieht mit seinem Pferdeschwanz aus wie ein junger Francis Rossi. Mit Status Quo verbindet Placebo außerdem der Unwille, sich substanziell weiterzuentwickcln. Auch Steve Forrest, der neue Jungspund an den Drums, vermag keinen frischen Wind in den Sound des Trios zu bringen. So spielen Placebo ein routiniertes Greatest-Hits-Programm (minus „Pure Morning , „Nancy Boy“ und „You Don’t Care About Us“), das Nostalgiker zufriedenstellt, aber auch die Vermutung nahelegt, die Halbwertszeit dieser Band könnte bald abgelaufen sein. Um keine Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass sie verdientermaßen die Headliner des ersten Tages sind, beginnen die Killers ihr Set mit den Hits „Human“ und „Somebody Told Me“ – und verschießen damit gleich den Großteil ihres Pulvers. Es fehlt der Band an genügend mitreißenden Songs, um den Spannungsbogcn über eineinhalb Stunden aufrechtzuerhalten. Zwischen den Singleauskopplungen und einem soliden Joy-Division-Cover („Shadowplay“) kommt oft Langeweile auf. Brandon Flowers hat seine Rockstarposen zwar gut einstudiert, doch wirkt alles sehr distanziert und unterkühlt.
Die White Lies spielen samstagnachmittags im Regen vor ein paar Handvoll Eingeweihten, die jeden Song inbrünstig mitsingen. Überraschenderweise kann Harry McVeigh den imposanten Studioaufnahmen stimmlich inzwischen annähernd gerecht werden. Mit pathetischer Gestik lenkt er von kleinen Schwächen ab. Nicht zur rechten Zeit am rechten Ort – es ist zu kalt, zu hell, zu früh – sind dagegen später Phoenix, die gleich im Anschlussein großartiges, Centerstage-würdiges Konzert spielen. Weil die französische Band im Pop eine eigene Sprache gefunden hat, die sowohl den Intellekt als auch den Bauch anspricht, gehört ihr dynamischer Auftritt zu den Höhepunkten des Wochenendes. In zwei Kilometer Entfernung auf der Centerstage ziehen Machinc Hcad später ihre Thrash-Metal-Show ab,
die der Wind gut hörbar zur Alternastage trägt, auf der Madness (sich) in wohltuendem Anderssein gefallen. Musikalisch (Ska-Pop-Punk) und modisch (schwarze Anzüge, weiße Hemden). Sänger Suggs McPherson appelliert denn auch an die „Nachbarn“, sie mögen bitte nicht so einen Lärm machen, „denn wir wallen hier Party machen“. Wie wahr: „One Step Beyond“, „My Girl“, „Our House“, alles dabei.
Vorjahren noch berüchtigt dafür, ihre eigenen Songs nicht anständig auf die Bühne zu bringen, schaffen es Bloc Party heute sogar, einen winterlichen Freiluftauftritt in der Eifel zu einem Erlebnis zu machen. Selbst über die Live-Version des Euro-Trash-Hits „Flux“ kann man nicht meckern. Weniger subtil, dafür aber höchst effektiv ist der Mainstage-Auftritt von The Prodigy. Tobende Menschen, so weit das Auge reicht: Während die Briten auf der Bühne pure Aggression in Schall verwandeln, schubsen sich in unzähligen Mosh- und Circlepits die oft shirtlosen Festivalbcsucher herum. Vom Balkon der Startgeraden aus betrachtet, bieten die gut 60.000 einen eindrucksvollen Anblick, den man allerdings nicht lange wirken lassen kann: Keine 30 Sekunden nach dem letzten Ton stimmt die Menge „Scheiß Tribüne“-Gesänge an.
Keine besonders gute Figur machen überraschend am Samstagabend Mando Diao: Lange Pausen klaffen zwischen den Songs der Schweden, die Songauswahl ist – vor allem in Anbetracht der mittlerweile eisigen Temparaturen – etwas zu zurückhaltend, und zu allem Überfluss scheinen Björn und Gustaf bisweilen nicht ganz bei der Sache zu sein. Zwischen blitzenden Lichtern und als vorletzter Act des Tages müssen sich … Trail Of Dead im Clubtent erst warm spielen. Sie wechseln immer wieder die Besetzung und verlieren sich zunehmend in wunderschönen Klangspielercien. Kaum zehn Minuten nach ihrem Abgang beginnen Dredg ihr Set. Dass das Clubtent um zwei Uhr morgens immer noch rappelvoll ist, sagt einiges über den Stellenwert aus, den diese Band mittlerweile in Deutschland genießt. Mit einer ausgewogenen Mischung aus alten und neuen Songs sorgen Dredg dafür, dass die meisten Fans bis zuletzt aushalten, bevor sie kurz nach drei Uhr hundemüde auf die kalten Campingplätze entlassen werden. Hohen Unterhaltungswert hat am Sonntag der Auftritt von Tomte. Thees Uhlmann, der „einzige Killers-Fan“ (Eigenaussage), ist in einem Metal-Hammer-T-Shirt und mit einem Weinglas auf die Bühne gekommen, um zwischen kleinen Schlucken vom „Blut des Kcyboarders Simon Frontzek“ die verfrorene Menge am Nachmittag mit alten und neuen Tomtc-Songs, einer Coverversion von „Human“ und seinen launigen Sprüchen zu unterhalten. Lediglich auf seine Verabschiedung reagiert die Menge mit kollektiver Ratlosigkeit (Thees:
“ Um 22 Uhr alle bei den Gallows! Denn wenn das Pferd nicht trinkt, schmeißen mir’s ins Wasser!“) – wir aber haben uns quasi vorausschauend an die Verabredung gehalten: Der zornige, energetische Auftritt der Gallows im Coca-Cola Soundwave-Tent war Samstagnacht sowieso Pflichttermin. Etwas trau rig dagegen die Erkenntnis, dass die Post-„Young-Folks“-Peter Björn & John zwar musikalisch neue Wege gehen, ihr minimalistischer, kühler Elektropop aber trotzdem nicht ins Schwarze trifft. So lobenswert es ist, dass die Schweden ihre Songs live umarbeiten und neu interpretieren – wenn selbst ihre reduzierte Version von „Let’s Call It Off“ nicht zündet, läuft was schief. Die Grundstimmung hebt sich kollektiv, als am späten Sonntagnachmittagdie Sonnenstrahlen das Wolkendickicht durchbrechen. Zu den Subways wird deshalb getanzt, gepogt und gefeiert. Die gute Stimmung greift schnell auf die etwas überrumpelte Band über. Fix haben die Engländer die Centerstage gut im Griff, spielen mit dem Publikum, gebärden sich als Rockstars und gehen in der Menge baden. Sänger Billy Lunn kündigt einen „letzten“ Song nach dem nächsten an, und sogar die schüchtern wirkende Charlotte Cooper wagt ein Pläuschchen mit ihren Fans.
Es sind nicht viele Leute, die sich gegen 20 Uhr vor der Alternastage einfinden, um in klirrender Kälte Chris Cornells Auftritt zu sehen. Mit einer Backing Band, die klingt und aussieht, als wäre sie von RTL gecastet worden, spielt der Ex-Grunger Songs aus allen Stationen seiner Karriere. Nach drei Tracks vom aktuellen Album SCKEAM stechen sogar mittelmäßige Audioslave-Songs als wohltuende Abwechslung hervor. Wohl dem, der backstage einen Bodyguard hat, der alle von dem Zaun fernhält, an den man schnell noch pinkelt. Wohl dem auch, der danach auf die Bühne geht, um am Ende eines langen Festivals eine beeindruckende Menge Leute sehr glücklich zu machen. Der Auftritt von Peter Fox, der am Sonntag nach Mitternacht mit seiner 1 6-köpfigen Band druckvolle Versionen der Songs seines Albums präsentiert, ist ein perfekterund-was das Wetter betrifft-versöhnlicher Schlusspunkt für Rock am Ring: Während der Show leuchtet ein voller Mond von einem erstmals fast wolkenlosen Himmel. Gute Nacht und bis zum nächsten Mal! www.rockamring.com