Drei Tage Krach! Rock am Ring 2008, Nürburgring
"It's a beautiful noise/And it's a sound that I love / And it fits me as well / As a hand in a glove" -Neil Diamond
Freitag
„Thank you once again, Rock im Park!“, ruft der Sänger von Silverstein und kriegt gerade noch die Kurve: „Uh, Rock am Ring! Rock im Park is next door.“ Ja, genau. Und, nein: Wir wissen auch nicht, wer Silverstein sind und ob uns das disqualifiziert. Jedenfalls hegt die Band einen Hang zum so zeit- wie konturlosen Alternative-Gerocke, und damit ist sie nicht allein hier bei Rock am Ring, das seinem Namen 2008 so mal wieder viel Ehre macht. Die Leute woll’n, dass Rock passiert, und sei es von der Hand der gefühlt 700. Band, die dies‘ eine alternativ-metallische Dauerschleifenlied spielt. Dagegen wirken Bad Rel igion, die am frühen Abend ihr Polit-Update geben (jetzt sei es nur noch ein halbes Jahr, bis Bush weg sei; na herrlich) und dem Publikum ordentlich Honig ums Maul schmieren („It’s been a while since we played here, but you’re as ugly as ever“), ja geradezu knusprig.
Hauptattraktion des Freitags – und vermutlich die am neugierigsten erwartete Band des Festivals – sind die Männer, die vor 16 Jahren dem „alternativen“ Rock heutiger Prägung mit aus dem Ei halfen. 2003 füllten drei von ihnen mit Sänger Chris Comell hier als Audioslave (und mit dezidiert silversteineskem Sound) den Headlinerposten. Jetzt spielen sie mit ihrer alten Formation den ersten Deutschland-Gig ihrer seit letztem Jahr laufenden Reunion-Tour. Punkt 22 Uhr geht der rote Stern auf: Ein riesiges Transparent im Bühnenhintergrund zieht sich hoch, zu den ersten dräuenden Akkorden von „Testify“ flammen bengalische Fackeln im Publikum auf – Damen und Herren: Rage AgainstThe Machine.
Zack de la Rocha, der mit lichter gewordenem Wuschelhaar aussieht wie eine Mischungaus Billy Crystal und Pumuckl, springt nicht mehr ganz so hoch, guckt nicht mehr ganz so grenzfanatisch und hat nicht mehr ganz das Hysterische, Rasende, Entzündliche in der Stimme wie einst, aber seine Intensität ist immer noch schier greifbar. Drummer Brad Wilk scheint streckenweise in Not, das knackige Beat-Korsett nicht zu verschleppen, dafür haben sich Tom Morellos Gitarrenverrücktheiten tatsächlich eine zeitlose Frische bewahrt. Das Ganze haut weitgehend rein. Aber mit der Zeit fragt man sich doch, ob da neben dem kommentarlosen i:i-Abspielen der alten Hits vielleicht, ganz vielleicht noch etwas mehr sein sollte/könnte? Nicht, das: man sich das 115. wohlfeile Bush-Bashing wünschte oder die Rede zur Lage der Nation am Freitagabend, aber: Gibt es denn wirklich so gar nichts Neues, was uns diese angeblich vor Politbewusstsein berstenden Typen zu sagen oder singen haben? Und warum eigentlich muss Tom Morello, der sich in seine Markenzeichen-Klamotte (Guerrillahemd etc.) geschmissen hat, ein eigenes Posing-Podest haben, auf das er affigerweise hinaufsteigt, wenn ein Gitarrensolo ansteht? Und warum sind die T-Shirts so pervers teuer? Ein leichter Hautgout von Agit-Prop-Nostalgie-Fasching liegt in der Luft – dann hauen sie einem auch schon wieder ein Gerät wie „Bullet In The Head“ oder „Know Your Enemy“ um die Ohren. Rein rocktechnisch ist diese Band freilich voll satisfaktionsfällig.
Nach dieser bierernsten Angelegenheit tut ein Besuch bei Roisin Murphy im Soundwave Tent gut. Das spinnerte Huhn aus Dublin zelebriert zu den eckigen Beats und Hooks ihrer Avant-Elektro-Stücke einmal mehr die kunstvolle Fusion von Albernheit und Sexyness. Wie die verschroben-zerstreute LoFi-Version einer Dancepop-Fee a la Kylie (klar:
Roisin kann besser tanzen) stakst sie in diversen seltsamen Mützen und Mänteln herum, vollführt einige der unmöglichsten Dance-Moves der Saison und schlägt am Ende pantomimisch – und schön im Rhythmus des Beats – ihre Backgroundsängerinnen zusammen, dass die Matrosenhüte nur so fliegen.
Nach so viel sinnvoller Gewalt wird der Ruf nach Gerechtigkeit laut. „Justice! Justice!“ schreien die Leute die unheilvolle Godzilla-Intro-Fanfare herbei, und dann stehen sie da hinten im Halblicht, Justice, die coolen Säue – wer sich am Nachmittag am ME-Bus ein Autogramm geholt hat und von Xavier de Rosnay angelächelt wurde, weiß, was berückende Popstar-Ausstrahlung ist; so ähnlich muss Marc Bolan einst auf seine Umwelt gewirkt haben – und machen großartigen Unfug mit Geräuschen. Man wird nicht müde, diesen grotesken Ghettoblaster mit 18 flankierenden Marshall-Boxen und dem flackernden Kreuz in der Mitte – ein Geniestreich in Sachen Bühnen-Design – anzustarren und folgt den hundertfach gebrochenen Beatkaskaden wie Alice dem weißen Kaninchen. Als sie einen schließlich laufen lassen und man aus dem Zelt taumelt, spielendrüben The Prodigyzum Mitternachts-Special. Das Resthirn reicht für eine letzte Erkenntnis: Das war vor zehn Jahren mal toll. Und heute ist Justice. Gute Nacht.
Samstag
Samstagfrüh, sprich: 15 Uhr. Noch wenig los auf dem Gelände. Hot Chip um den einmal mehr grandios unmöglich gestylten Alexis Taylor bringen mit ihren genialisch verschachtelten Elektropop-Kostbarkeiten eine eher überschaubare Menschenmenge zum Wackeln und Grinsen. Und sie versorgen den Reporter mit Fakten für jenen schönen Klischeesatz, der in Variationen in jedem Festivalbericht auftauchen muss: Ja, es ist wahr, bei „Over And Over“
kommt zum ersten Mal an diesem Wochenende die Sonne raus! Wie angemessen.
Hernach Kate Nash, die dann doch einen Tick zu wenige aufregende Hits und zwei, drei, vier Ticks zu viele lahmarschig-beliebige Midtempo-Semiballaden am Start hat, um an einem Festivalnachmittag irgendeine Wurst vom Teller zu reißen. Die Musik scheint sich in dem Moment, da sie aus den Boxen tritt, auch schon rückstandsfrei verflüchtigt zu haben. Am Ende bleibt nur in Erinnerung, dass Kate zu viel Lippenstift drauf hatte, oder?
Der Nachmittag am ME-Bus plätschert dahin. Die Infadels schauen vorbei, die eigentlich als erste Band hätten spielen sollen, von ihrem Busfahrer aber über Nacht zum falschen Festival-Rock im Park- kutschiert worden waren. Jetzt sind sie doch noch hier und geben Autogramme. Apropos plätschern: Natürlich sind die selbstzufriedenen Pinkler da. „Ich piss euch an den Zaun und bin eins mit dem Universum dabei“, sagen ihre entspannten Gesichter jenseits des Absperrgitters. Längst ist ein Sumpf entstanden. Vielleicht ganz gut, dass sich die sengende Sonne schon wieder verzogen hat.
Am frühen Abend zeigen die Manie Street Preachers auf der Alternastage, wie eine Festivalband agieren muss: Die alten Hymnenschleudem sind nicht aufgelegt, Gefangene zu machen, sondern gehen crowdpleasingmäßig voll auf die Zwölf. Hit reiht sich an Semi-Hit, breitarschige Gitarrenriffs boxen sich mit britzelnden Soli, man covert Rihannas „Umbrella“ und Nirvanas „Pennyroyal Tea“ und leistet der schleichenden Renaissance des Saxophon-Solos im Rockkontext weiteren Vorschub.
Dann wartet alles auf die Babyshambles, doch bald macht die Kunde die Runde, Pete Doherty habe kurzerhand die Festivalplanung in die Hand genommen und den Auftritt seiner Band auf die späte Nacht, nach The Verve, verschoben. So werden Headliner gemacht!
Dafür entspinnt sich am ME-Bus eine spontane „Schweine am Samstag“-Special-Tanzparty, die nicht einmal wankt, als auf der nahe gelegenen Alternastage die Söhne Mannheims anfangen („Turn it up!“, schreit ein Gast den ME-DJ an, der gerade „Sympathy For The Devil“ spielt, was übersetzt ja in etwa so viel heißt wie „Muss das wirklich sein, Naidoo?“). Dem Reporter ist es unmöglich, sich jetzt einfach zu Metallica an die Center Stage abzuseilen. Irgendwann tut er’s doch noch, der halbstündige Ausflug (Backstage-Shuttle-Service macht’s möglich, har har) bestätigt, was man eh wusste: Metallica haben die dicksten Hosen hier an („Die Polizei-Eskorte für Metallica ist bestätigt“, quäkt das Funkgerät im Shuttle). Und Metallica sind weiterhin die mächtigste, mächtigste Rock-Monstermaschine, die man sich auf ein Festival holen kann. Wir kommen an, als gerade das Pyro-Intro zum immer wieder unfassbaren „One“ losdonnert, Kirk Hämmert ist on fire. Der zunehmend knubbelnasige James Hetfield macht lustig Pommesgabel in den Kamera-Closeup, dann hauen sie „Enter Sandman“ raus, dass sich 140.000 Ohren anlegen. Gegen den Schub, den diese Band zu entfesseln imstande ist, sind Rage Against The Machine eine Truppe von lungenkranken Rheumatikern.
„Wir woll’n den Drogen-Pete, wir woll’n den Drogen-Pete!“, grölt das Partyvolk vorm ME-Bus. Aber die bekommen jetzt erst mal den Reefer-Richard. Die Live-Rückkehr von The Verve auf der Altemastage. Richard Ashcroft sieht blendend rockgöttlich aus mit Sonnenbrille, kurzem Haar, Lederjacke über weit aufgeknöpftem Hemd und (Sport?)Zigarette zwischen den Fingern. Dunst von den nahen Wäldern zieht vorbei. „I thought this was one of Metallica’s wind machines, but it’s actually real“, freut sich Ashcroft und fordert zum Tanzen auf, aber dafür grooven die Songs der ewigen Midtempo-Hymniker meist doch etwas zu getragen und majestätisch. „The Drugs Don’t Work“, „Sonnett“, „Lucky Man“ strahlen prachtvoll, werden nur stets etwas zu weit in die Länge gejammt. „Bittersweet Symphony“ offenbart die ganze Stärke der Band: Sie können einen langsamen Song angemessen langsam spielen, ohne dass Druck verloren geht. Am Schluss dann ein neues Stück: Upbeat, viel Elektro, wenige Gitarren. Man darf wohl vorsichtig auf das neue Album gespannt sein.
Weit nach Mitternacht dann doch noch: Babyshambles. „Sorry, wier siend spät, huh?“, sagt Pete Doherty. Zunächst wirkt er bemerkenswert auf Draht, mehr und mehr wird aber sichtbar, dass er einen langen Abend Zeit hatte, sich backstage den ein oder anderen hinter die Binde zu kippen o.a. Die Band trägt ihren Frontmann, der trotz Schlagseite zuverlässig Hinreißendes aus der Gitarre schüttelt, mit stoischer Ruhe bis zum Finale, einem chaotischen „Fuck Forever“, das am Ende in Feedback-Noise ertrinkt, während Doherty von der Bühne tänzelt. Keine Zugabe. Wie auch.
Sonntag „Kumm daun! Kumm daun from the hills!“, ruft Futureheads-Gitarrist Ross Millard im lustigen Sunderland-Akzent. Millard buhlt um etwas mehr Publikum für seine Band, aber am dritten Ringtag ist um drei nachmittags noch kaum wer auf dem Gelände. Und so verhallen eines der knackigsten Sets und einer der tollsten Songs des ganzen Festivals – „The Beginning of The Twist“!!! – verhältnismäßig ungehört. Aber Amen, ich sage euch: Die, die es gesehen und gehört haben, haben Zeugnis abgelegt und siehe, sie haben gesagt: Wie geil!
Publikumsmangel: ein Problem, das Fettes Brot lange nicht mehr kennen. Am späten Nachmittag geht’s hoch her auf der Center Stage, einem Rahmen, den die Brote würdigst zu füllen verstehen, mit dicker Band im Rücken und einerShowund Präsenz, die die professionelle Stringenz der Fantastischen Vier und den chaotischen Witz der Die Ärzte zu etwas unverwechselbar Fettem, Brotigem vereint.
Wir können leider nicht von den Fratellis berichten, weil die den undankbarsten Slot des Festivals haben und die Altemastage rocken, während auf der Center Stage beim „größten Public Viewing Deutschlands“ das EM-Spiel Deutschland – Polen abgefeiert wird. Interessanterweise nimmt keiner der notorisch Fußball-affinen Bands, die die Übertragung flankieren, groß Bezug darauf. Die Sportfreunde Stiller würdigen erst am Ende ihres gut gelaunt schrägen Sets – Höhepunkt: „Ich Roque“ feat. DJ (!) und Einsprengsel von, Jump“ und „Eye Of The Tiger“ – das Ereignis mit einer EM-Umdichtung von „54,74,90, 2008“. Beim wieder mal alles umarmenden Headliner-Gig der Toten Hosen stehen dann eigene sportliche Hochleistungen im Fokus: Volkstribun Campino hat den Fuß im Gips, klettert aber trotzdem die ca. 20 Meter hohe Bühnenkonstruktion hoch. Und das ist dann doch… irgendwie beeindruckend. Ganz am Ende Queens Of The Stone Age auf der Alternastage. Was für eine großartige Band! Jemand mault. Nick Ollveri müsse zurück in die Band. Wir sind zu müde, um das jetzt auszudiskutieren, aber: Nein.
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