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30 Jahre The Cures „DISINTEGRATION“: The Dark Side Of The Mood


Im Jahr 1988 kam Robert Smith der Gedanke, dass er nach seinem 30. Geburtstag wohl nicht mehr in der Lage sein wird, ein echtes Meisterwerk zu schaffen. Da war er 29. Dies ist die Geschichte eines legendär eigensinnigen Visionärs, der tatsächlich bekam, was er wollte.

Die Überlebenden der N-Bombe

Mit Blick zurück auf seine Entstehung 1988 muss man sich allerdings fragen: Warum wurde dieser Klassiker eigentlich zu so einer tiefen, traurigen Pfütze? Aus der Perspektive der damaligen Fans und erst recht aus der des Cure-Labels Polydor war das eigentlich nicht zu erklären. Denn: Hatte diese Band in den fünf, sechs Jahren zuvor nicht ein wahres Märchen erlebt?

Der frühere The-Cure-Drummer Clifford Leon „Andy“ Anderson (rechts) starb am 26. Februar 2019 an den Folgen einer Krebserkrankung.
The Cure 1984: Paul „Porl“ Thompson, Robert Smith, Lol Tolhurst und Clifford Leon Anderson

Tatsächlich hatten sich The Cure im Juni 1982 ja eigentlich schon aufgelöst, besser: selbst zerstört, nach heftigem Streit und Chaos auf ihrer Europa-Tour (es war ihre erste mit „gothischen“ Haaren und verschmiertem Lippenstift) und einer Prügelei in Straßburg. Und dann eben doch weitergemacht, als Duo: Smith und sein alter Buddy Lol Tolhurst. Ein Duo, das nur wenige Monate nach der Explosion ihrer Nihilismus-Bombe PORNOGRAPHY plötzlich alberne, catchy Synthie-Pop- und Kindermelodie-Songs in die Singlecharts schoss.

Mit dem psychedelischen, leicht konfusen fünften Album THE TOP (1984) folgte gewissermaßen Robert Smiths erste (inoffizielle) Solo-LP. Danach fanden Bassist Simon Gallup und Gitarrist Porl Thompson zurück ins Gefüge und mit dem Ex-Thompson-Twin Boris Williams ein ausgesprochen kreativer Schlagzeuger hinzu, sodass The Cure mit THE HEAD ON THE DOOR (1985) und KISS ME KISS ME KISS ME (1987) zwei Alben aufnahmen, die echte Gruppen-Arbeiten und stilistisch sowie auch in ihren Launen und Gefühlslagen ungeheuer abwechslungsreich waren, und doch auch deep as fuck. Alle Auskopplungen daraus – von „In Between Days“, über „Just Like Heaven“ bis zum goofy-funky „Hot Hot Hot!!!“ – gingen irgendwo auf diesem Planeten, in den verschiedensten Clubs, Radio- und TV-Stationen als handfeste Hits und Lieblingslieder durch. Dazu kam die enorm erfolgreiche 86er-Singles-Compilation STANDING ON A BEACH mit dem alten Mann und dem Meer auf dem Cover und ihr spürbarer Spaß am Konzertegeben – das alles machte The Cure zu einer richtig großen Sache.

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Doch, ja, den Begriff „Stadionrockband“ gab es damals schon, und Robert Smith war das alles bald nicht mehr geheuer. Nein, er wollte keine banale Hit-Band haben, keine Duran Duran, aber auch nicht die aufgeblasenen U2 oder die doofen Simple Minds sein (er hasste sie alle). Er verstieg sich deshalb in die Idee, ein neues Monster von einem Album zu schaffen, so intensiv und einnehmend wie das oben genannte dunkle Trio aus den frühen 80ern – aber noch gewichtiger, großartiger, bombastischer! Denn auch diese fixe Idee ergriff Besitz von ihm: Bist du älter als 30, wird dir als Rockmusiker kein Meisterwerk mehr gelingen. Smith war jetzt 29.

Rosamundes Hood

Dennoch lief die Vorproduktion zum nächsten Album zuerst einmal erstaunlich locker an. Sie fand im Juni 1988 in Boris Williams’ neu erworbenem Landhaus inmitten der Rosamunde-Pilcher-Idylle von Devon statt. In zwei Wochen entstanden dort aus den Ideen und Homerecording-Entwürfen der Mitglieder 32 roughe, schnell und unkompliziert zusammengebaute Banddemos.

Dort spielte man aber auch Cricket und Billard, fuhr zum Tontaubenschießen, ging ins Pub, grillte, soff, und einmal warfen die beiden Besitzer des kleinen Restaurants die Straße runter den Musikern ohne Bescheidsagen einfach ein paar Magic Mushrooms auf die Pizza: „Haha, ich dachte, ich verliere meinen Verstand“ – so erinnerte sich Roger O’Donnell, der 1987 als zweiter, zuerst aber nur als Tour-Keyboarder zur Band gestoßen war, 2009 in seinen durchaus indiskreten und lästerlichen „Memories of making the album“. Während Robert Smith 2010 in den Liner Notes zur Deluxe Edition von DISINTEGRATION im gewohnt eher mystifizierenden Tonfall feststellte: „Wir schufen uns eine kleine seltsame Welt, eine surreale Insel – eine wie ich denke verständliche Reaktion darauf, wie ernsthaft und groß alles rund um The Cure geworden war.“

Auch bei Roberts Hochzeit mit seiner Jugendliebe Mary im August, anlässlich der er ihr auch seinen „Lovesong“ geschrieben hatte (die Musik stammte allerdings von Simon Gallup), hatte die Band eine prima Zeit. Im September kehrten dann alle in Boris Williams‘ Anwesen zurück, um weiter an den Demos zu arbeiten. Und vielleicht wäre aus DISINTEGRATION doch eine so lustvoll überbordende Kollektiv-Platte geworden wie die beiden Vorgänger, wäre da nicht die Sache mit Lol Tolhurst gewesen: Roberts Freund seit Grundschulzeiten hatte ein handfestes Alkoholproblem entwickelt; und The Cure deshalb ein immer größeres Problem mit ihm.

The Cure, 1979: Simon Gallup, Robert Smith, Matthieu Hartley und Lol Tolhurst

Als sich Smith in seine Londoner Wohnung zurückzog, um Texte für die neuen Stücke zu schreiben, schlüpfte er, weg von der Band und weg von Lol, weg von den Stadien und all den Leuten, die an ihm, den Rockstar, herumzerrten, umso tiefer in seine Höhle, flüchtete mit Hilfe von reichlich LSD vor der Realität, steigerte sich aber auch weiter hinein in eine dunkle Gedankenwelt, die letztlich die Welt von DISINTEGRATION werden sollte. Robert schrieb – auch ohne jede Berührungsangst vor großem Drama und Kitsch – über verlorene Liebe („Pictures Of You“), über den Verfall von Gefühlen und den Verlust der Unschuld der Jugend („Last Dance“), über die Unmöglichkeit, den Erwartungen anderer Menschen zu entsprechen („The Same Deep Water As You“), über die Leere (und zwischen den Zeilen über den in ihm aufsteigenden Zynismus), die er inmitten des Nightlife-Trubels um ihn herum verspürt („Fascination Street“) und schließlich über die Verzweiflung an sich in „Untitled“: „Hopelessly fighting the devil futility, feeling the monster climb deeper inside of me, feeling him gnawing my heart away hungrily“.

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Gabor Scott Redferns