250 Geheim-Tipps


Indie

Toy Love

Toy Love (1980)

Punk und New Wave spielten auch in Neuseeland eine Rolle. Vom DIY-Geist der damaligen Zeit waren Toy Love unüberhörbar beeinflusst. Eine Wucht sind das Cowpunk-Imitat „Bride Of Frankenstein“, die ungezogene Lustattacke „Photographs Of Naked Ladies“ und die in „Cold Meat“ durchklingenden Wire-Einflüsse. Nach Schließung ihrer Spielwiese machten Sänger Chris Knox und Gitarrist Alec Bathgate als Tall Dwarfs weiter und wurden in aller Welt zu Indie-Helden. tw

Human Sexual Response

In A Roman Mood (1981)

Die Band aus Boston existierte zwischen 1977 und 1982. Sie hat in dieser Zeit zwei Alben aufgenommen und war stilistisch nach vielen Seiten hin offen. Für eine Geschichte über König Atreus in der griechischen Mythologie vertiefte sie sich in die Dunkelkammer-Stimmung von The Cure. In „A Question Of Temperature“ und „12345678910“ ging es wie im Punk-Fieberrausch zu. Interessant ist auch das, was danach kam. Blickfang Casey Cameron ist die Mutter von Cameron Mesirow (Glasser), Malcolm Travis trommelte unter anderem für Bob Moulds Band Sugar und Gitarrist Rich Gilbert unterstützte zeitweise Frank Black. Gute Leute, damals und heute. tw

Trixie’s Big Red Motorbike

5 Songs (EP,1983)

So klingt die Unschuld vom Lande: Erdbeeren mit Sahne, Bootspartien in f lachen Gewässern, Strohhüte und gepunktete Röcke. Die Geschwister Jane und Mark Litten kamen von der Isle Of Wight vor der Südküste Englands und stellten dem Post-Punk auf ihren wenigen Singles und Tapes diesen zuckersüßen Indie-Pop entgegen. Die „5 Songs“ enthalten Blockflöten und Vogelgezwitscher, jazzige Akkorde und Handclaps -vor allem aber Janes glockenklare Stimme. Wer Belle &Sebastian mag, sollte sich auf die Suche nach dieser EP machen. abo

Blue Aeroplanes

Bop Art (1984)

Sie sind in den vergangenen 30 Jahren stets ein Spezialfall geblieben. Dass es so kommen musste, konnte man sich angesichts dieses Debütalbums denken. Blue Aeroplanes waren ursprünglich begierige Eleven des Post-Punk. Bei ihnen wurde die Folk-Fiedel zum tragenden Instrument. Avantgarde-Funk mit Saxofoneinlagen spielte eine Rolle. In „Outback Jazz“ und „Bagpipe Music“ spielten Aspekte der World Music hinein. All diese Elemente erlaubten es Gerard Langley, seinen poetischen Sprechgesang auszuprobieren, der zum Markenzeichen dieser unzerstörbaren Eigenbrötler wurde. tw

Jasmine Minks

One Two Three Four Five Six Seven, All Good Preachers Go To Heaven (1984)

Wenn man den Anfängen von Creation Records auf den Grund gehen will, dürfen diese fünf Zuarbeiter nicht fehlen. ONE TWO THREE … war die erste Album-Veröffentlichung im Label-Katalog. Eine dominante Rolle spielen Orgeln aus dem Hause Farfisa und Hammond, durch sie manövrierten sich die aus Aberdeen stammenden Jungs in die Nähe des Sixties-Revivals. Auch Spuren des Klingelgitarren-Pop waren zu erkennen. Jasmine Minks machten es gut und blieben über die Jahre sympathische Außenseiter. tw

The June Brides

There Are Eight Million Stories … (1985)

Mitte der 80er-Jahre suchten alle händeringend nach Musikern, die im Windschatten der Smiths eine gute Figur abgeben. The June Brides erhielten für ihre Bemühungen viel Zuspruch. Der „NME“ setzte sie aufs Cover und Morrissey engagierte sie fürs Vorprogramm. Sänger Phil Wilson konnte gut mit Worten umgehen, das schrammelige Gitarren spiel war spektakulär und die Trompete sorgte für einen Pale-Fountains-Effekt. Alles bestens eigentlich. Trotzdem löste sich die Band ein Jahr nach Veröffentlichung dieses Albums schon wieder auf. Erst 2012 kehrte sie für einige Konzerte und mit einer neuen Single zurück. Auch das war nur eine Episode. Man könnte viel mehr von ihnen vertragen. tw

It’s Immaterial

Life’s Hard And Then You Die (1986)

Schon der LP-Titel ist die reinste Wahrheit. Mit dem ersten Stück ihres Debütalbums gelang dem Trio aus Liverpool zudem ein kleiner Hit: „Driving Away From Home (Jim’s Tune)“ kommt als englischer Road-Song daher, zum Shuffl e-Beat geht es über Manchester nach Newcastle und Glasgow, der Sänger spricht, die Mundharmonika fördert das Fernweh. Danach verliert die Band ihre innere Ruhe, die Songs flirren, Beats und ein nervöses Piano treffen auf Akkordeons und Trompeten, die Harmonien erinnern mal an Nick Caves Zirkusblues, mal an OMDs Synthie-Pop -und wenn wie in „Space“ oder „The Sweet Life“ alles zusammenkommt, entsteht Magisches. abo

Game Theory

Lolita Nation (1987)

Eigentlich müsste es so sein, dass man der Welt nicht groß erklären muss, was für ein hervorragender Songschreiber der vor einem Jahr verstorbene Scott Miller war. Doch sowohl Game Theory als auch die Nachfolgeband The Loud Family blieben Insider-Lieblinge. LOLITA NA-TION wurde erneut von Mitch Easter produziert, der zuvor schon R. E. M. auf die Sprünge geholfen hatte. Auf diesem Doppelalbum erlaubte sich Miller alles. Alle vier Seiten hören sich zusammengenommen wie das Ergebnis eines gigantischen Brainstormings an. Neben melodischen Powerpop-Songs förderten Noise-Experimente und Geräusche aus der Natur den Eindruck von immenser Entwicklungsfreude. tw

Cardiacs

A Little Man And A House And The Whole World Window (1988)

Genau einen Radiohit hatte die Londoner Band Cardiacs. Da nicht viele ihrer Lieder die relative Gradlinigkeit von „Is This The Life?“(Nummer 80 in den UK-Charts) besaßen, sondern sich in den progressiveren, psychedelischeren Enden der Indie-Weiten austobten, reichte es nie für den großen Durchbruch. Sänger und Multiinstrumentalist Tim Smith selbst bestand darauf, dass die Gruppe nur eine Popband sei, die nun einmal Psychedelia spiele. Den Liedern auf der LP hört man klar die Van-der-Graaf-Generator-Auswüchse an, die komponiert-abdriftende Songstruktur, und gleichzeitig einen guten Schuss XTC-Melodien. dcs

The Orchids

Unholy Soul (1991)

Heimat der Orchids war das kleine Indie-Label Sarah Records aus Bristol, das aus der lokalen Fanzine-Szene hervorging. Dort veröffentlichte die schottische Band zuerst das Minialbum LYCEUM, gefolgt von UNHOLY SOUL, einem leichten, etwas arrangierteren Update ihres behutsamen Twee-Pop: Klingende Gitarren zu sanften, träumerischen Melodien, die nicht im Shoegaze-Feedbackrausch untergehen, sondern mit James Hacketts Hauchgesang und den zurückhaltenden Loops auf Songs wie dem hymnischen „Peaches“ ihre ganze, sagen wir es ruhig: Süße entfalten. dcs

Thousand Yard Stare

Hands On (1992)

1992 brachte sich das Königreich für die großen Britpopjahre in Stellung, alle fuhren auf Suede ab, Glanz und Gloria war das Soundgebot der Stunde. Da passten Thousand Yard Stare mit ihrer britischen Popversion nicht richtig rein: zu unbedarft, zu fröhlich, zu wenig schillernd. Die Gruppe wusste um ihr Schicksal, auf ihren Shirts stand: „Thousand Yard Who?“- Heute hört man diese LP viel lieber als die Glam-Schinken der damaligen Konkurrenz, denn der Jingle-Jangle-Pop der La’s und von The Smiths fließt wunderbar mit Neo-Psychedelia und Folkrock zusammen. abo

Adorable

Against Perfection (1993)

Sie hielten sich ihrem Namen nach für anbetungswürdig und begannen ihr erstes Album mit dem Song „Glorious“. Da war sie wieder, die den Briten so oft eigene Pop-Hybris. Einen vorsichtigen Eindruck machten Adorable auch sonst nicht. Bei ihnen klang der Einfluss der frühen Platten von Echo &The Bunnymen durch, auch die Lust auf Gitarrendresche im Stil der Pixies konnten sie nicht unterdrücken. Trotzdem blieb die Band zur Hochzeit von Grunge und Britpop chancenlos. tw

Eggs

Teenbeat 96 Exploder (1994)

Halbstündige Indie-Rock-Platten kann jeder. Aber so ein 66 Minuten langes Ding mit 24 Stücken muss man erst einmal hinbekommen, ohne sich total zu verheben. Eggs waren Teil der Indie-Szene rund um Washington, D.C., zu der auch Bands wie Unrest zählten. Das Label Teenbeat betrieb man selbst, was den Eggs größtmögliche Freiheiten gab. „Why Am I So Tired All The Time?“ ist entspanntes Slackertum, „Ampallang“ melodiöser Powerpop, „Salsa Garden“ Shoegaze-Rock mit Posaune, „Saturday’s Cool“ halb Garagen-Hymne, halb Progressive-Rock-Verarsche. Das Album ist die große Indie-Rock-Wundertüte für den Liebhaber, am Stück gehört besonders wertvoll. abo

The 6ths

Wasps‘ Nests (1995)

Der Name dieses Projekts und Albums sind schwer auszusprechen. Auf so etwas kommt Stephin Merritt, der heute als musikalischer Leiter von The Magnetic Fields und Future Bible Heroes ein Begriff ist. Er hatte alle Songs des Albums geschrieben, aber verschiedene Kollegen gebeten, sie zu singen. Auf der Gästeliste standen Merritts persönliche Helden: Georgia Hubley von Yo La Tengo, Dean Wareham von Galaxie 500/Luna und Amelia Fletcher von Talulah Gosh/Heavenly/Marine Research. Dazu gesellte sich schüchternes Gitarrenspiel und raschelte es im Drum-Computer. Indie-Rock kann manchmal ziemlich widerborstig sein. Hier aber wirkt er wie eine Liebkosung. tw

Bedhead

Beheaded (1996)

Der Titel lässt schon erahnen, dass es sich beim zweiten Album der Texaner um eine eher freudlose Affäre handelt. Matt Kadanes Sprechgesang schleppt sich schwerfällig durch die karge Orchestrierung; ein kurzes Zupfen der Gitarrensaiten hier, das beinah leise pulsierende Einsetzen des Schlagzeugs da, und schon nimmt der Ritt durch die Ödnis des Daseins seinen Lauf. Aber kopflos ist Bedheads Spiel ganz und gar nicht, vielmehr eine tiefe Verneigung vor The Velvet Underground. dcs

Geneva

Further (1997)

Alle vier Singles aus diesem Album erreichten in Großbritannien die Top 40. In der stürmischen Attacke „Into The Blue“ erklomm Sänger Andrew Montgomery schwindelerregende Höhen. Mit den schwelgerischen orchestralen Ornamenten in „Tranquilizer“ adaptierte die Band den Geist der bittersüßen Sinfonie von The Verve. Geneva hatten auch eine Schwäche für herbstliche Stimmung. Es kam einiges zusammen. Den Sprung ins neue Jahrtausend schafften diese Schotten trotzdem nicht. tw

Badly Drawn Boy

EP 3 (EP, 1998)

Bevor Damon Gough alias Badly Drawn Boy alias der Mann mit der Mütze 2000 den prestigeträchtigen Mercury Music Prize gewann (um anschließend vergeblich zu versuchen, den Erfolg seines Debütalbums THE HOUR OF BEWILDER-BEAST zu wiederholen), hatte der Musiker bereits eine Reihe von Singles und EPs aufgenommen. Anstatt sich, wie später in seiner Karriere, hier dem Eingängigen zuzuwenden, um als aufstrebender Künstler von einem möglichst großen Publikum wahrgenommen zu werden, experimentierte Badly Drawn Boy an den äußeren Genrerändern des Indie-Pop. „EP 3“, als letzter Vorbote des preisgekrönten Albums, changiert zwischen verschrobenen Beta-Band-Melodien („My Friend Cubilas“), klimpernder Nachtmusik („Interlude“) und der Blaupausen für das abstrakte Singer-Songwriting des späteren Erstlings. dcs

Roddy Frame

The North Star (1998)

Sein Projekt Aztec Camera hatte der Schotte mit dem jenseitigen FRESTONIA beendet, und auch auf dem ersten Solo-Album schwebte er über den Dingen. Es fällt schwer, eine bessere britische Singer/Songwriter-Platte zu finden. Zehn Songs nur, jeder auf höchstem Niveau, mit großen Melodien, stilvollen Arrangements und einem Sänger in Höchstform. Die Stimmung ist milde und melancholisch, Stücke wie „Back To The One“ und „River Of Brightness“ ziehen einem die Schuhe aus. Dann steht man barfuß auf dem Parkett, mit Träne im Knopfloch den Polarstern suchend. abo

Mojave 3

Excuses For Travellers (2000)

Möglich, dass es im Jahr 2000 eine ganze Reihe aufregendere Platten als diese hier gab. Alben wie die von Radiohead, Grandaddy oder Outkast. Aber nicht viele fingen den schönen Herzschmerz einer Trennung, des Alleinseins, der Verzweiflung so ein wie EXCUSES FOR TRAVELLERS. Auf dem dritten Album von Mojave 3 umspielt die Stimme von Sänger und Ex-Slowdive-Frontmann Neil Halstead zarte Akustikmelodien, die Dream Pop mit Country verbinden. It hurts so good. dcs

South

From Here On In (2001)

Die bahnbrechende Britpopwelle hatten South verpasst, als das von James Lavelle (Mo‘ Wax/U.N.K. L. E.) produzierte Debüt im März 2001 erschien. Die Wörter Britpop und Zenit hatten längst ihre Wege gekreuzt, und Musikfans standen stundenlang für Konzertkarten an, um den verwaschenen Garagen-Rock einer jungen Band namens The Strokes zu hören. Vielleicht einer der Gründe, warum dem Londoner Trio mit seinem schönen Mix aus straightem Britpop und Madchester-Anleihen nicht der ganz große Erfolg gelang. dcs

Detachment Kit

They Raging. Quiet Army (2002)

Die Vergleiche mit dem explosiven Gitarrenspiel der Pixies und dem Noiserock der Label-Kollegen Les Savy Fav liegen bei Detachment Kit auf der Hand. Trotzdem bringt die Band aus Chicago auf ihrem Debüt jede Menge Ideen ein, die THEY RAGING. QUIET ARMY zu einem kurzweiligen Album machen. Wobei „11.22.63“ genau auf die genannten Vorbilder einzahlt, setzt ein Stück wie „The Euphio Question“ mit dem verzögerten, balladesken Rhythmus einen gekonntuntypischen Gegenpunkt zum lauten Indie-Rock des Großteils der Platte. dcs

All Girl Summer Fun Band

All Girl Summer Fun Band (2002)

Ein hellblaues und knallrotes Cover. Kann man sich allein in diesen Farben auch auf die Straße trauen? In Portland geht das. Die vier Mitglieder der All Girl Summer Fun Band unterstrichen mit diesem Outfit ihr Interesse an Niedlichkeit. Sie versuchten sich am Revival des Girl-Pop der 60er-Jahre, viele Jahre bevor er in den USA zum Trend-Thema wurde. Auch an der Pflege des C86-Erbes waren sie beteiligt. Dazu erzählten sie unkompliziert und herrlich mädchenhaft Geschichten über die Vor-und Nachteile ihrer Liebhaber. „I stumble over my do, do, do, do, do“, sangen sie. Kann Musik simpel und entzückend sein? In diesem Fall absolut. tw

Sun Kil Moon

Ghosts Of The Great Highway (2003)

Nachdem die Red House Painters versandet waren, hatte Mark Kozelek den Glauben an die Bandidee verloren. Doch für das Debütalbum seines anderen Projekts Sun Kil Moon setzte er noch einmal auf musikalische Opulenz und trommelte neue wie alte Weggefährten zusammen. Eine lange Reise, die über die Weiten des Ohio Rivers führt, von mexikanischen Revolutionsführern und Profiboxern erzählt und dem Judas-Priest-Gitarristen Glenn Tipton einen Akustiksong widmet. abo

Hal

The Time The Hour (2012)

Unglaublich, wie viel diese Iren über Popmusik wissen. Über die Arrangements und die Produktion. Aber auch das Geheimnis des Songwritings. Natürlich müssten Hal an der Spitze der Charts, mindestens aber im Fokus der Kenner stehen. Nach dem beachteten Debütalbum aus dem Jahr 2005 rutschte die Band jedoch vom Radar. Zeit für die Wiederentdeckung! THE TIME THE HOUR ist atemberaubend perfekt. Es steckt viel Brian Wilson in der Platte, aber auch das weite Panorama des Laurel Canyon, die Pop-Finesse der Bee Gees vor ihrer Disco-Phase, das Überkandidelte der Sparks. abo

Gisli

How About That?(2004)

„I’m like the Second World War without the Nazis /I’m like Diana without the paparazzi.“ Ein Milchgesicht aus Island dichtet Zeilen wie diese und kann sich nicht entscheiden, ob er lieber Elliott Smith oder ein Beastie Boy wäre. Kein Problem, geht beides. Die Platte wurde 2004 veröffentlicht, erinnert aber an die 1990er, als Leute wie Beck, Money Mark und Spookey Ruben die Basisarbeit für diese Art von Pop-Kauderwelsch geleistet hatten. Spinnermusik? Dafür ist ein Song wie „You & Me“ viel zu gut. abo

Pop

The Millennium

Begin (1968)

Ein „Klassiker des Sunshine-Pop“, weiß Wikipedia. Doch kaum fällt dieser Begriff, „Sunshine-Pop“, spielt die Hirn-Juke-Box reflexartig Mamas-And-The-Papas-Chöre ein, die Topf-Palme im Hof wiegt sich im Takt -und nach fünf Minuten beschleicht einen die Angst vor Seelen-Karies. Doch dankenswerterweise baut das äußerst vielseitige Kollektiv um den fantasievollen Melodievogel Curt Boettcher (The Association, später an der Seite von Elton John und Dennis Wilson zu hören) auf seinem einzigen Album den sonnendurchfluteten Pop zur abendfüllenden Veranstaltung aus – und reißt in einer verspielten, aber kein bisschen verspulten Produktion einen schier endlosen Horizont auf von PET SOUNDS über „Hair“ bis hin zu Burt Bacharach. Zwar waren auch The Millennium dem psychedelischen Zeitgeist verfallen, doch niemals verliert BEGIN seine wunderbare Leichtigkeit. ogö

Gilbert O’Sullivan

Himself (1971)

Drei Top-Ten-Hits in den USA und eine BRD-No. 1 („Get Down“) machten ihn zum Radiostar. Doch als Album-Künstler trägt der Ire keinen klingenden Namen. Dabei hat es durchaus die Klasse der besten Elton-John-Werke und Paul McCartneys gelungener Solounternehmungen, wie er sich auf seinem Debüt gegen die professionell gleichschaltende Orchesterproduktion Gordon Mills (Tom Jones, Engelbert Humperdinck) durchsetzt mit seinen Piano-Songs. Gerade weil die kein bisschen größer sein wollen als das Leben selbst. ogö

We All Together

We All Together (1972)

Schon wieder Paul Mc-Cartney. Der wurde von der peruanischen Band We All Together auf ihrem Debüt gleich zweifach gecovert (die Wings-Stücke „Tomorrow“,“Some People Never Know“) sowie Badfingers „Carry On Till Tomorrow“, das wiederum McCartney im Original produziert hatte. Eindeutigere Querverweise lassen sich kaum setzen. Doch das Quintett aus Lima staunte nicht nur seinen großen Vorbildern aus dem Norden hinterher, es arrangierte sein Epigonenwerk auch in seinen Eigenkompositionen dermaßen liebevoll, geradezu verliebt, dass der hippieske Geist weiter unten am Pazifik noch einige Zeit länger frei schweben durfte. ogö

The Rubinoos

The Rubinoos (1977)

Warum 1977 Teenager nicht gleich highschoolweise zu dieser Platte dahinschmolzen? Vielleicht hätte das der Manager der Rubinoos beantworten könnte. Heute braucht es sicherlich eine nostalgische Ader und eine Vorliebe fürs Plakativ-Naive, um dem mit Klischees nur so um sich werfenden, aber eben auch herzzerreißend, ausgelassen und nicht zuletzt augenzwinkernd Power in den Pop pustenden Quartett aus Berkeley nicht zynisch zu begegnen. The Rubinoos waren tatsächlich eine dieser Bands, die einen ganzen Abschlussball hätten überstehen können, ohne auch nur eine Coverversion spielen zu müssen (na gut, eine Coverversion hatten sie: „I Think We’re Alone Now“ von Tommy James And The Shondells). Schwiegermütter-Ramones. Toll! ogö

New Musik

From A To B (1980)

Ein neues Jahrzehnt braucht neue Helden. Tony Mansfield war für diese Rolle perfekt geeignet. Er konnte singen, Songs schreiben und produzieren. Und er nahm mit seiner Band die elektronische Popmusik der Achtziger vorweg, ohne die Errungenschaften der Vergangenheit außer Acht zu lassen. Frank Zappa gefiel’s, er wählte für seine Sendung als Gast-DJ bei der BBC die erste Single „Straight Lines“ aus. New Musik lieferten eigenständige und sicher exekutierte Songs ab, die Ewigkeiten nach ihrem ersten Erscheinen immer noch packend klingen. tw

Bow Wow Wow

See Jungle! See Jungle! Go Join Your Gang, Yeah. City All Over! Go Ape Crazy!(1981)

Bow Wow Wow waren eine weitere verrückte Idee von Malcolm McLaren. Er hatte hierfür einige Musiker bei Adam & The Ants losgeeist und als Sängerin Annabella Lwin engagiert, die als 13-Jährige während ihres Samstagsjobs in einem Waschsalon schrille Lieder trällerte. Mit afrikanischem Gitarrenspiel, Tribal-Beats, New-Wave-Funk-Bässen und Lwins Teenager-Theater verursachten Bow Wow Wow einige Aufregung, vor allem mit „Chihuahua“, „(I’m A) T. V. Savage“ und „Go Wild In The Country“. Kollegen schwören bis heute darauf. Man muss sich nur bei den Chili Peppers erkundigen. tw

Thomas Dolby

The Golden Age Of Wireless (1982)

Diese Platte saugte die Musik der letzten zehn Jahre auf und verwandelte sie dank einer Synthie-Pop-Produktion, die sich nicht zuletzt dank vieler Gastmusiker wie Andy Partridge (XTC) und Tim Friese-Greene (Talk Talk) fast schon Musical-groß und -breit machte, in eine hypermoderne Platte, die dennoch erstaunlich gut altert. Dolby hatte seinen Talking Heads, seinem Peter Gabriel und seinem Bowie genau zugehört. Sein Ansatz war der eines multimedialen Konzeptkünstlers. Unter dem Albumtitel versammeln sich Songs über das Wunderding Radio wie die Moderne im Allgemeinen. Mit dem nachträglich auf das Reissue gepackten knallig-kauzigen „She Blinded Me With Science“ holte Dolby sogar noch einen richtigen Hit. Wichtiger ist aber wohl: THE GOLDEN AGE … ist genau so ein Album, wie es Dolbys Vorbild Bowie zu dieser Zeit auch gerne hinbekommen hätte. ogö

Vanity 6

Vanity 6 (1982)

Die Ausgehtracht dieses von Prince auf die Bettkante drapierten und musikalisch in Szene gesetzten Trios ist sicherlich diskussionswürdig. Doch wenigstens gibt es bei Vanity, Brenda und Susan keine Text-Bild-Schere („I need 7 inches or more“). Peaches hat Vanity 6 schon einmal richtig auf den Punkt gebracht: „Das ist eine reine Männerfantasie!“ Trotzdem liebe sie diese Platte. Der „Controversy“-Prinz ist allgegenwärtig, (Synthie-)Funk der Grundstock. Der New-Wave-Einschlag macht Laune. Vor allem ist VANITY 6 aber ein schwüler Spaß. Wie die frühe Madonna. Nur eben nicht so unschuldig. ogö

Friends Again

Trapped And Unwrapped (1984)

Eine Gitarre, die den nörgeligen Stil Tom Verlaines verinnerlicht hat. Ein Sänger, der sich dem Objekt der Begierde rückhaltlos an den Hals wirft und von Streichern begleitet wird -das alles gehört zu „State Of Art“. Es ist ein vorbildlicher Popsong und nicht der einzige Höhepunkt auf dem einzigen Album dieser schottischen Band. Chris Thomson und James Grant waren von Soul, Funk und Blues beeinflusst und machten daraus Lieder für die Liebeswiese. Sie passten perfekt zu dem, was ABC und Haircut 100 vorgemacht hatten. Gebracht hat es nichts. Friends Again lösten sich bald auf. tw

Stephen Duffy

Because We Love You (1986)

Die große Huldigung des Duran-Duran-Mitgründers, One-Hit-Wonders, kurzzeitigen Robbie-Williams-Schwindligmachers, vor allem aber begnadeten Pop-und Folk-Songwriters und Sängers Stephen Duffy steht immer noch aus. Und wenn sie kommt, geht dieses, sein zweites Album wohl trotzdem unter. Wie so oft bei Duffy muss man sich zuerst durch ein, zwei zu poppige, hier auf Motown getrimmten Nummern arbeiten. Dann aber und spätestens mit der perfekt orchestrierten Klavierballade „Julie Christie“ geht einem das Herz auf. ogö

Danny Wilson

Meet Danny Wilson (1987)

Noch eine Band mit dem einen Hit („Mary’s Prayer“, heute noch auf Oldie-Sendern rotierend), deren zugehöriges Album(debüt) zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Die Schotten galten als „Sophisti-Pop“-Kapelle, waren also lose mit Bands wie Prefab Sprout oder Swing Out Sister verbandelt, um leichte und gerne auch leicht jazzige Klänge bemüht, aber im Geheimen nach dem teuflisch perfekten Popsong forschend, der sich immer weiter im Hörer verwurzelt, bis er ihn komplett willfährig gemacht hat. Darüber hinaus geht mit Danny Wilson hier und da schon auch mal die Dramatik durch. Gut so! ogö

Marshall Crenshaw

Marshall Crenshaw (1982)

Girls, girls, girls -sie hatten den Songschreiber Crenshaw fest im Griff, er gewann ihrer so wunderbaren wie rätselhaften Existenz immer wieder neue spannende Seiten ab. Der aus Detroit stammende Sänger und Gitarrist hatte bei Buddy Holly, den Motown-Acts und Beatles gut zugehört. Sein überbordender Enthusiasmus relativierte am Ende jeden Plagiatsverdacht. „There She Goes Again“,“Someday Someway“,“Cynical Girl“ und „Mary Anne“ erfreuen mit einer herzerfrischenden Direktheit, die über die Jahre nicht an Kraft eingebüßt hat. tw

Frazier Chorus

Sue (1989)

Ein Quartett (später Trio) aus Brighton, das seine erste Single bei dem Edel-Indie 4AD veröffentlicht, aber bald schon irgendwo zwischen den Pet Shop Boys, Madchester und TripHop verloren geht/zerrieben wird. Sanfter, elektronischer, aber auch urbritisch akzentuierter Alleine-Dance-Pop mit wunderschönen Saxofonen, Flöten, Klarinetten, Trompeten, lustwandelndem Jazz-Bass und der aus 100 Prozent Samt gewebten Stimme Tim Freemans, der es als Texter allerdings faustdick hinter den Ohren hat: „Your life is too good to be true, I think I’ll ruin it for you.“ ogö

Adult Net

The Honey Tangle (1989)

Wie das gehen soll, dass sich Brix Smith und Simon Rogers bei der Post-Punk-Institution The Fall, regiert vom Obergrimm Mark E. Smith, wohlfühlen konnten, obwohl es sie doch offensichtlich zum frühlingshaften, psychedelisch angehauchten Gitarrenpop hinzog? Keine Ahnung. (Die Frau war für ein paar Jahre ja sogar Smiths Ehegattin.) Warum das erste und letzte Album von Adult Net, einer Art (Ersatzbank-)Supergroup, da Brix Smith die Platte neben Rogers mit Ex-Mitgliedern von The Smiths, The The und Blondie aufnahm, floppte? Vielleicht weil die Bangles ein bisschen schneller waren – und THE HONEY TANGLE vielleicht sogar etwas zu frühlingshaft (falls das überhaupt geht). ogö

Vanessa Paradis

Vanessa Paradis (1992)

Zu einer Zeit, in der Retromoden in der Popmusik bereits eine wichtige Rolle spielten, das Handwerk der Wiederaufb ereitung aber noch lange nicht so perfektionistisch betrieben wurde wie heutzutage, zauberte Lenny Kravitz der französischen Quoten-Lolita eine Produktion rund um ihr dünnes Stimmchen, dass man aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam – dermaßen glamouröse, sexy und Bollerofen-warme 60s-Pop-/Soul-/Funk-Nummern sind das. Die beste Platte, an der beide je beteiligt waren. ogö

Wendy James

Now Ain’t The Time For Your Tears (1993)

„This is a test“, singt Wendy zum Einstieg. In der Tat musste sie sich erst einmal auf neuem Terrain einfühlen. Die von Transvision Vamp bekannte Peroxid-Polterin wollte als seriöse Sängerin wahrgenommen werden. Als Songschreiber engagierte sie Elvis Costello und dessen damalige Frau Cait O’Riordan. Das hatte Folgen. Ausgelassen feierte sich James in „Puppet Girl“ im Stil einer jungen Sandie Shaw. Als Einheimische wusste sie nur zu gut, dass London auch bei schlechtem Wetter brillant ist. Die Leute ließen sie am Ende aber im Regen stehen. Das hatte sie nicht verdient. tw

Merricks

The Sound Of Munich (1997)

Im durch und durch analogen Sound in einem Münchner Proberaum eingespielt, treibt diese Platte ihr charmantes, romantisches, ironisches Spiel mit der tanzbaren Popmusik der ausgehenden Siebziger. Auch wenn der Albumtitel sich eindeutig auf die Disco-Tradition der Weißbier-Hauptstadt bezieht und damit auf Giorgio Moroders Wirken in den Musicland Studios, wird der musikalische Kosmos viel weiter gefasst -von den Buggles über mediterranen Urlaubspop bis hin zu Roxy Music. THE SOUND OF MUNICH ist die wilde, sommersprossige (und tatsächlich ein Jahr ältere) Schwester von Airs MOON SAFARI. ogö

Terry Hall

Laugh (1997)

Erst The Specials, dann Fun Boy Three. Der Weg für eine lange Popkarriere war bereitet. Die hat Terry Hall tatsächlich hinter sich, allerdings wurde er mit zunehmender Zeit zum Liebhaberthema. Dieses formidable Album hat trotz seines Namens und des damals günstigen Britpop-Klimas viel zu wenig Beachtung gefunden. Hall schlingt seine Stimme um Stücke, an denen Damon Albarn, Stephen Duffy, Sean O’Hagan und Smiths-Zuarbeiter Craig Gannon beteiligt waren. Eine Version von Todd Rundgrens „I Saw The Light“ rundet den Reigen ab. Hall gibt ja gerne den Melancholiker. Etwas mehr Optimismus steht ihm aber auch. tw

Birdie

Triple Echo (2001)

Dass Easy Listening auf der Höhe seines 90s-Revivals bald schon einen schlechten Ruf bekam, lag daran, dass mit diesem Sound kaum einer so clever umzugehen wusste wie die Cardigans oder Pizzicato Five. Deborah Wykes und Paul Kelly, die sich als Tourmusiker von Saint Etienne kennen gelernt hatten, waren ziemlich spät dran mit ihrer passenderweise auch etwas verschlafenen Variante. Aber dafür hat man sich damals an Birdie ganz sicher auch noch nicht totgehört. Erschien auf dem Wiesbadener Apricot-Label, wo es noch einige Entdeckungen wie diese zu machen gab und gibt. ogö

Soffy O

The Beauty Of It (2006)

Eine Platte aus dem erweiterten Œuvre der damaligen Kanada-Berlin-Connection. Produzent: Mocky. Gäste: Jamie Lidell, Gonzales. Sofia Larsson Ocklind alias Soffy O ist allerdings Schwedin, hatte 2002 als Gastsängerin der Berliner Elektrokapelle Toktok die Clubs unsicher gemacht und mit THE BEAUTY OF IT einen gleichermaßen eindeutigen wie eigenwilligen 80s-Funk-/60s-Girl-/Elektroclash-Pop-Bastard an den Start gebracht, dass man glauben musste: Jetzt geht es erst richtig los mit dieser Frau. Ging es aber nicht. ogö

Fugu

As Found (2007)

Es hat in Frankreich in den vergangenen 15 Jahren einige richtig gute anglophile Musiker gegeben, nicht nur Phoenix. Zu ihnen zählt Mehdi Zannad, der in England studiert hat, die Beatles liebte und Big Star und die von ihnen beeinflussten Nachkömmlinge Jellyfish, The Posies und Teenage Fanclub. Das Geschmeidige, das vielen französischen Produktionen zu eigen ist, trägt ebenfalls zum Gelingen bei. Heute veröffentlicht Zannad unter eigenem Namen. Sein letztes Album heißt FUGUE. Sachen gibt’s. tw

Sia

We Are Born (2010)

Man kann nicht behaupten, sie hätte kein Bühnencharisma. Als Sängerin von Zero 7 bekam sie vom Publikum Komplimente. Man kann auch nicht behaupten, sie könne keine Songs schreiben. Wenn es so wäre, würde diese Australierin von den Produzenten von Christina Aguilera, Katy Perry oder Britney Spears nicht nach neuen Stücken gelöchert werden. Dennoch kann bis heute nur ein überschaubarer Kreis etwas mit dem Namen Sia anfangen. Dabei bringt diese feurige Künstlerin mit ihrer Partyfrau-Stimme hier auf ihrem fünften Album Freunde von Dance-Pop, Soul, Elektro und dem Frechdachs-Appeal einer Lily Allen im Nu auf Touren. tw

Quadron

Quadron (2009)

Mit „Hey Love“ gelang Quadron 2013 der erste kleine Hit. Alles aber was an diesem Dänen-Duo großartig ist, steckte bereits in ihrem Debüt. Die unbekümmerte Zuversicht der Sängerin Coco Maja Hastrup Karshøj. Das Talent des Produzenten Robin Hannibal (Rhye, Boom Clap Bachelors), die Wärme des Einst mit dem Cool von heute zu paaren. Und vor allem dieses aufreizend naive Knistern, das sich zwischen Stimme und Sound entspinnt. Von der Single „Buster Keaton“ bis zum Abschluss in dänischer Sprache: nur Hits. db

Georg Levin

Everything Must Change (2010)

Zu etwas Bekanntheit gelangte Georg Levin im Umfeld des Berliner Kollektivs Jazzanova; gemeinsam mit Dixon, dem bestimmenden House-DJ dieser Tage, war er Wahoo. Zur vollen Entfaltung aber brachte er sein vielfältiges Talent erst, als er sich von den formellen Vorgaben der Clubmusik löste. EVERYTHING MUST CHANGE ist famoser Blue Eyed Soul, beeinflusst von 80s-R’n’B und Jazzfunk, Boogie und Steely Dan, aber ohne den leisesten Anflug jener Retrohuberei, die einem den Spaß an Mayer Hawthorne gerne mal vergällt. db

Honey Ltd.

The Complete LHI Recordings (2013)

Die neueste Platte in dieser Liste ist die mit der ältesten Musik, denn sie stammt von 1968. Honey Ltd. waren eine vierköpfige Mädchengruppe aus Detroit, die für das Label von Lee Hazlewood und von ihm produziert eine Handvoll Songs aufnahmen, die fast umgehend in Vergessenheit gerieten. Dabei geht von dieser Musik, die auf halben Weg zwischen Motown und Los Angeles, also zwischen souligem Girlgroup-Pop und den psychedelischen Verheißungen Kaliforniens ins Swingen und Taumeln gerät, ein ganz eigener Reiz aus. Vor allem von den fantasievoll gesetzten Gesangsharmonien. ogö

Elektronik

Texte von Albert Koch

Les Baxter &Harry Revel With Dr. Samuel Hoffman

Music Out Of The Moon (1947)

Was sich heute anhört wie zeittypischer Lounge-Jazz, war vor 67 Jahren eine Sensation. Zwischen Streichern und Frauenchören und Pianoarpeggios des in den Neunzigern zu retrospektivem Ruhm gekommenen Orchesters von Les Baxter gibt es die wimmernden und laut Plattencover „unusual“ Klänge des Theremins. Bedient von Dr. Samuel Hoffman, einem Pionier des Spiels auf diesem Vorläufer des Synthesizers. Musik der Zukunft, der Ursprung des Space-Age-Pop und das bestverkaufte Theremin-Album aller Zeiten. Von Neil Armstrong 1969 nach der ersten Mondlandung an Bord von Apollo 11 gespielt.

Perrey &Kingsley

Kaleidoscopic Vibrations: Electronic Pop Music From Way Out (1967)

Bereits in den Sechzigern hatten der Franzose Jean-Jacques Perrey und der Deutsch-Amerikaner Gershon Kingsley im Duo Perrey &Kingsley versucht, die Klänge des damals neuen Moog-Synthesizers in einen poppigen Kontext zu stellen -Perrey sollte 1970 das Instrumental „Popcorn“ veröffentlichen, das zwei Jahre später in der Version von Hot Butter ein Monsterhit wurde. Auch auf diesem zweiten Album des Duos mündete die Moog-Dekontextualisierung in einer Art Novelty Music; tagesaktuelle Hits und Evergreens („Strangers In The Night“,“Third Man Theme“,“Moon River“) wurden in die Sprache des Synthesizers übersetzt. Aber manche Passagen und Intros weisen in ihrer Experimentierlust weit in die Zukunft.

Bruce Haack

The Electric Lucifer (1970)

Bruce Haack (1931-1988), Studien abbrecher der Juilliard School Of Music in New York, erfolgreicher Komponist von Kindermusik, nicht so erfolgreicher Produzent elektronischer Musik für „Erwachsene“. THE ELECTRIC LUCIFER ist das Schlüsselwerk des Kanadiers, ein Konzeptalbum gegen den Krieg, über den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Schwerem Acid-und Psychedelic-Rock und Novelty-artigen Passagen stellt Bruce Haack die Sounds aus modifizierten Synthesizern und Modulatoren und Vocoderstimmen gegenüber. Dem hippiesken, esoterischen Konzept zum Trotz öffnete Haack hier eine Tür in die Zukunft: „Electricity becomes sound“.

Karlheinz Stockhausen

Prozession (1971)

Wahrscheinlich wäre Karlheinz Stockhausen (1928-2007) not amused, bezeichnete man sein Werk PROZESSION als frühen Remix von Stockhausen-Musik. Ungewöhnlich für den Komponisten: die Musik für PROZESSION ist nicht notiert, sie besteht aus früheren Stockhausen-Kompositionen -„Mikrophonie 1″,“Gesang der Jünglinge“, „Kontakte“,“Momente“ – die von den Musikern variiert und transformiert werden. Deshalb gibt es auch keine definitive Version dieses elektro-akustischen Stücks, es differiert von Aufführung zu Aufführung und lebt von der Interaktion der Musiker. Denen räumt Stockhausen höchstmögliche Freiheit ein. Und diese manifestiert sich in Atonalität und im scheinbar strukturlosen Aufb au von PROZESSION, einem der radikalsten Stücke im Stockhausen-Katalog.

Jean Michel Jarre

Deserted Palace (1972)

Das erste Album des späteren Synthesizer-Superstars: Library Music, die für den Gebrauch in Filmen, TV-Sendungen und Werbespots gedacht war. 15 Miniaturen von unter einer Minute bis sieben Minuten Spielzeit. Was hier bereits aufb litzt: das Gespür des Franzosen für Melodien und für Transformationen barocker Strukturen („Music Box Concerto“) auf die Synthesizermusik. Mehrheitlich steht DESERTED PALACE mit seinen elektroakustischen Experimenten („Windswept Canyon“) aber in der Tradition der frühen Avantgarde der elektronischen Musik. Vier Jahre nach DESERTED PALACE sollte OXYGÈNE kommen.

Edgar Froese

Epsilon In Malaysian Pale (1975)

Eines von gar nicht so wenigen Solo-Alben des Tangerine-Dream-Gründers aus den 1970ern, die das Soundspektrum der Gruppenwerke logisch erweitern. Der Titeltrack: eine atmosphärische, ganz und gar unkitschige und beatlose Klangmalerei auf dem Mellotron mit klassischen Strukturen, melodischen Verschlingungen und sphärischen Störungen. „Marouba Bay“ auf der zweiten Seite der LP beginnt gewaltig, wagnerianisch als Protoambient, um dann zu einem von Sequencerrhythmen getriebenen Stück zu werden, das auch den zeitgenössischen Tangerine-Dream-Platten gut gestanden hätte.

Conrad Schnitzler

Consequenz (1980)

Es ist nur eines von zahllosen Alben aus dem unüberschaubaren Werk des Berliner Elektronik-Pioniers, das seinen Ruf als musikalischer Visionär belegt. Zusammen mit Wolfgang Seidel, dem Schlagzeuger von Ton Steine Scherben, ließ der 2011 verstorbene Schnitzler auf CONSEQUENZ die Avantgarde ins Popformat rutschen. Die zwölf Tracks haben fast alle Format-Radio-Länge. Das war es dann aber auch schon mit dem Pop. Schnitzler entwarf hier eine Art elektronischer Minimal Music, die trotz stellenweiser „tanzbarer“ Beats Avantgarde bleibt. 1980 war das Zukunftsmusik, heute lesen wir aus ihr Spuren in Industrial und Techno heraus.

Logic System

Logic (1981)

Ohne DJ Harvey, der vor drei Jahren dem visionären Track „Clash“ einen gar nicht so radikalen Remix widmete, wäre das Projekt Logic System wahrscheinlich in der absoluten Vergessenheit verschwunden. Hinter Logic System stand der Japaner Hideki Matsutake, der in den 1970er-Jahren als Assistent des Synthesizerpioniers Isao Tomita arbeitete und später als das heimliche vierte Mitglied des Yellow Magic Orchestra galt. LOGIC war Matsutakes Solodebütalbum, das einen Monat vor Kraftwerks COMPUTERWELT veröffentlicht wurde. Beide Alben wiesen in die Zukunft der elektronischen Musik. Während Kraftwerk, ohne es zu ahnen, House erfanden, lieferte Hideki Matsutake eine frühe Form des Elektro, minimalistisch, mit glockenklaren Sounds aus dem analogen Synthesizer und Roboterbeats.

Charanjit Singh

Ten Ragas To A Disco Beat (1982)

Es ist gar nicht so schwer für Musikarchäologen, unter Kenntnis der Gegenwart in der Vergangenheit Spuren zu finden, die auf in der Zukunft liegende musikalische Ereignisse hindeuten, die zum Zeitpunkt des Fundes auch schon wieder Vergangenheit sind. Schwerer wird es -und daran sind schon Generationen von Musikjournalisten glorios gescheitert -, in der Gegenwart zu erkennen, dass eine bestimmte Musik Auswirkungen auf die Zukunft haben wird. Und wenn diese Musik im Jahr 1982 quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Indien von einem Bollywood-Sessionund Hochzeitsmusiker herausgebracht wurde, ist das Erkennen der Zukunftsfähigkeit nahezu unmöglich. Charanjit Singh wollte mit TEN RAGAS TO A DISCO BEAT klassische indische Musik mit westlicher Tanzmusik verbinden. Als Gadget-Freak verfügte er über das neueste Equipment: Roland TR-808 Drum Machine, Roland TB-303 Bassline. Es ist frappierend, wie sehr diese Musik Acid House ähnelt, der fünf Jahre später von DJ Pierre erfunden und von 808 State in Europa popularisiert wurde.

Moebius/Conny Plank/Mayo Thompson

Ludwig’s Law (1983)

Von den vielen Alben des Dieter Moebius (Cluster, Harmonia) ist LUDWIG’S LAW das ungewöhnlichste. Es entstand 1983 in einer Session mit Conny Plank und Mayo Thompson (The Red Krayola), die Veröffentlichung wurde damals vom Label Sky abgelehnt. Erst 1998 wurde das Album von Drag City auf den Markt gebracht und ist seither wieder in der Versenkung verschwunden. Minimalistischer, metallischer Elektro-Pop’n’Funk mit komplex verschachtelten Rhythmen, über den Thompson seinen Sprechgesang legt.

Karel Svoboda

Die Besucher (1984)

Den größten Hit des tschechischen (Film-)Komponisten Karel Svoboda kennt jedes Kind, seinen Namen dagegen kaum jemand. Svoboda schrieb die von Karel Gott gesungene Titelmelodie der TV-Serie „Biene Maja“. Die wohl ungewöhnlichste Arbeit des Komponisten ist die Musik für die Science-Fiction-Serie „Die Besucher“. Dem Sujet angemessen benutzte Svoboda weitgehend elektronische Musik, verhandelte zeitgenössischen Elektro-Pop und ließ experimentelle Extravaganzen einfließen.

Dr. Fiorella Terenzi

Music From The Galaxies (1991)

Während Dutzende von Pionieren in der Frühzeit der elektronischen Musik damit beschäftigt waren, dem Weltraum mit irdischen Mitteln einen Sound zuzuweisen, ging die italienische Astrophysikerin Dr. Fiorella Terenzi 1991 den umgekehrten Weg. Sie erfand ein Verfahren, mit dessen Hilfe die Daten von Radioteleskopen aus dem Weltraum in Klänge umgewandelt werden konnten. Und wie klingt die MUSIC FROM THE GALAXIES? Wie die der Pioniere aus der Frühzeit der elektronischen Musik.

Caribou

The Milk Of Human Kindness (2005)

Das große vergessene Album der „Folktronica“. Dan Snaiths Debütplatte unter dem Alias Caribou nach zwei Alben als Manitoba. Schichten von Samples, Atmosphären und Rhythmen fügen sich auf THE MILK OF HUMAN KINDNESS zu Soundgebilden aus dem Zwischenleben, die der Folkie nicht Song, der Elektroniker nicht Track nennen mag. Es gibt Spieluhrenmelodien, Stimmen, die mehr Atmosphäre sein wollen als Gesang, abstrakte Folk-Instrumentals, Polyrhythmisches, eine Noise-Miniatur. Während der vorletzte Track „Pelican Narrows“ bereits andeutet, wo Dan Snaiths Reise als Caribou in den kommenden Jahren noch hingehen wird.

Etienne Jaumet

Night Music (2009)

Das fast 21-minütige „For Falling Asleep“ war schon ein konzeptuelles Statement. Es erinnerte an die Zeit in den 1970er-Jahren, als die Pioniere der modernen elektronischen Musik LP-Seiten-lange Stücke zum Konzept erhoben. Und diese Pioniere konnte man aus dem ersten Solo-Album von Etienne Jaumet, eine Hälfte des französischen Elektronik-Duos Zombie Zombie, heraushören: Jean Michel Jarre, Tangerine Dream, Klaus Schulze, Manuel Göttsching. NIGHT MUSIC stand in keiner zeitgenössischen Tradition der -ohnehin schwer fragmentierten – elektronischen Musik, war aber auch keine reine Retroshow. Saxofone, Acid-Linien und spooky Vocals definierten das Kraut-Electronica Stück „For Falling Asleep“ als Outsider Music. Die relativ kurzen Tracks auf der B-Seite gefielen sich in der Aufarbeitung von frühem Elektro und Detroit Techno.

Omar Rodriguez-Lopez

Tychozorente (2010)

Omar Rodriguez-Lopez kann auch ganz gut elektronisch. TYCHOZORENTE ist das erste und bisher einzige Album des Ex-Mars-Volta-Mannes, auf dem es keine Gitarre zu hören gibt. Stattdessen: Novelty-hafter Synthie-Pop, der seinen Erzeuger immer wieder als Experimentator ausweist. Windschiefe Melodien aus dem Mellotron, perkussiver Minimalismus, schleppende Rhythmik. TYCHOZORENTE entstand in Zusammenarbeit mit dem Underground HipHop-Producer DJ Nobody aus L. A. Der (spanische) Gesang kommt von Ximena Sariñana Rivera, der damaligen Freundin von Rodriguez-Lopez.

Jamie xx

We’re New Here Instrumentals (2011)

Das heimliche erste Solo-Album von Jamie xx. Im Jahr 2011 remixte der musikalische Direktor von The xx das im Jahr vorher veröffentlichte 13. und letzte Album des Proto-HipHop-Poeten Gil Scott-Heron, I’M NEW HERE. Aber was heißt schon Remix? Jamie xx legte ausgewählte Vocal-Tracks von Gil Scott-Heron über seine eigenen Instrumentals, die größtenteils auf dem Laptop auf Tour mit The xx entstanden sind. Das Album WE’RE NEW HERE INSTRU-MENTALS lässt den Gesang von Gil Scott-Heron weg. Es bleiben: basslastige, wackelige und luftige Soundkonstruktionen, die ziemlich genau zu der Zeitenwende entstanden sind, als sich der Dubstep aufsplitterte in die diversen Post-anything-Musiken von heute.

Elle P. & Iftah

Mrs. Oscillator And Her Pocket Calculator (2011)

Achtspurcassettenrekorder, drei Synthesizer und zwei Drum Machines: das Debütalbum der multidisziplinären Berliner Künstlerin und Sängerin Elle P. mit Iftah vom Berliner Produzentenduo Skinnerbox -DIY-Elektro-Synthie-Pop mit schön viel Ecken und Kanten. Und Elle P. singt dazu mal hauchzart, mal an der Grenze zur Manie. Musik irgendwo im weiten Feld zwischen New Wave und Chicks On Speed. Und „Sheffi eld“, vielleicht gemeint als Ode an die Stadt in England in ihrer Eigenschaft als Geburtsstätte zahlreicher Synthie-Pop-Acts in den 1980er-Jahren, ist der Überhit der 2010er-Jahre, den niemand kennt.

Symmetry

Themes For An Imaginary Film (2011)

Ganz so imaginär wie es der Albumtitel vermuten lässt, ist der Film gar nicht, für den Symmetry die Musik geschrieben haben. Symmetry, das sind Johnny Jewel, Labelchef von Italians Do It Better und u.a. Mitglied der Chromatics, und sein Chromatics-Bandkollege Nat Walker. Jewel schrieb den Soundtrack für Nicolas Winding Refns Film „Drive“, aber der größte Teil der Musik wurde zugunsten des Scores von Cliff Martinez nicht verwendet. Analog-Synth-lastige Instrumentalmusik, mal beatlos, mal beatbehaftet, in der sich alle guten Zutaten der Bands des formidablen Labels Italians Do It Better wiederfinden. Der eigentliche Skandal in Zusammenhang mit THEMES FOR AN IMAGINARY FILM ist nicht, dass Johnny Jewels Musik nicht im „Drive“-Soundtrack Verwendung gefunden hat, sondern wie ähnlich diese dann doch dem später entstandenen Score von Cliff Martinez ist.

Teebs

Cecilia Tapes Collection (2012)

Manchmal fördern inoffi zielle Veröffentlichungen mehr vom Charakter eines Musikers zutage als seine regulären. Zum Beispiel CECILIA TAPES COLLECTION von Teebs aka Mtendere Mandowa, einem bildenden Künstler und Musiker aus Los Angeles. Die sieben titellosen Tracks des Albums hat Teebs für eine Ausstellung seiner Gemälde in der HVW8 Gallery in Los Angeles aufgenommen, das Album wurde als CD-R in der Galerie und bei den Live-Shows von Teebs verkauft. Pointilistischer Sound-Impressionismus, der im Instrumental-HipHop wurzelt – eine Musik, die andere vielleicht „Ambient“ nennen würden. Ein Musterbeispiel für die L. A.-Schule, die die klassischen Bezugspunkte Techno und House außer Acht lässt.

Love Inks

Generation Club (2013)

Vor ein paar Jahren wurde die Minimal-Pop-Band aus Austin, Texas als soundästhetische Alternative zu The xx gehandelt. Mittlerweile haben Love Inks den Fokus ihrer Musik weiter in Richtung Elektronik verschoben, allerdings nicht so weit, wie man angesichts des Titels ihres zweiten Albums vermuten könnte. Love-Inks-Musik ist weiter lazy (Indie-)Pop, der kontrastiert wird von elektronischen Backings, die manchmal dreampoppigflächig klingen, manchmal dezent abstrakt. Angetrieben wird das alles vom Rhythmus einer billigen Drum Machine. GENERATION CLUB ist ganz anders (gut) als das Love-Inks-Debüt E.S.P. von 2011.

Matthewdavid

Mindflight (2013)

Ein Album wie MIND-FLIGHT hat sich selbst der vorwärtsdenkende Beatbastler Matthewdavid nicht getraut, seinem Experimenten nicht abgeneigten Label Brainfeeder anzubieten. MINDFLIGHT erschien vergangenes Jahr nur auf ultralimitierter Cassette. Zwei Tracks, jeweils knapp 42 Minuten lang, mit überdrehten Klangkonstruktionen, Soundschleifen, Drones und Noises, mit denen Matthewdavid dem Ambient-Genre eine weitere Facette verliehen hat.

Traumprinz

Mothercave (2013)

Manche nennen es House: das zweite Album des Hannoveraner Produzenten, der auch unter dem Namen The Prince Of Denmark (nicht sehr) bekannt ist, auf dem Giegling-Label aus Weimar. MOTHERCAVE ist ein Outsider-Album im allerbesten Sinn. Die Musik sitzt nicht nur zwischen allen Stühlen, sie bewegt sich auch noch fiebrig und unruhig darauf hin und her. Das ist kein House, das ist kein Techno, das ist kein Ambient, das ist kein Underground-HipHop – es ist von allem etwas. Abstrakt und freaky, konkret und minimalistisch, Ahnungen von Soul und Acid House ziehen sich durch die Tracks. Und ganz oldschoolig Techno-haft gibt es hier jede Menge MDMA-Referenzen: „There Will Be XTC“ und „Kiefermuskelkater“.

Jessy Lanza

Pull My Hair Back (2013)

Die Kanadierin Jessy Lanza ist nur ein Beispiel für die wichtigste aktuelle Entwicklung in der elektronischen Musik in der Saison 2013/14. Popmusik, die strukturell auf Bassmusik basiert und mit souligem Gesang ausgestattet ist. Lanzas von Jeremy Greenspan (Junior Boys) produziertes Debütalbum ist dann durchaus die Alternative zum angloamerikanisch geprägten Mainstream-R’n’B, weil dort die Musik trotz einer Vielzahl von Produzenten überhaupt keine Rolle spielt und dem Gesang und der Inszenierung untergeordnet wird. Hier aber geht es höchst musikalisch zu, die Musik – weiche Analog-Synth-Sounds, subsonische Bässe, minimalistische Beats -ist mindestens gleichberechtigt zum Gesang, wird ihm aber häufig übergeordnet. Die Stimme ist Ambience, ein weiteres Instrument.

Valentin Stip

Sigh (2014)

Eines dieser Werke aus der musikalischen Zwischenwelt. Das Debütalbum des 21-jährigen Franzosen Valentin Stip, einem Freund von Nicolas Jaar, auf dessen Label Other People das Album veröffentlicht wurde. Elektronische Grundierungen, neoklassische Strukturen, dichte atmosphärische Soundscapes stehen für eine neue Art des musikalischen Impressionismus. Die Stimmung des Albums ist vorwiegend düster, die Arrangements sind minimalistisch. Es gibt Andeutungen von arabischen Gesängen, einen unerwarteten Funkbass, Sounds aus den Tropfsteinhöhlen des Techno, immer wieder minimalistische Pianofiguren und melodische Ausformulierungen. Die acht Tracks laufen -zumindest in den digitalen Formaten -ohne Unterbrechung in 51 Minuten durch.

Eyedress

Hearing Colors (2014)

Das muss der Traum eines jeden Plattenlabels sein: junger, als „next big thing“ getaggter Act veröffentlicht lange vor seinem Debütalbum ein kostenloses „Mixtape“, bei dem sich der Unterschied zu einem „regulären“ Album nicht so ganz erschließen will. Noch besser: wenn der bisherige größte Hit (hier: „Nature Trips“) auch mit drauf ist. Auf HEARING COLORS bietet der philippinische Produzent Eyedress aka Idris Vicuña bunt-schimmernden elektronischen Pop in der Tradition der Post-Bassmusiken. Die Stimmung bewegt sich dabei immer leicht an der Grenze zur Melancholie.

Folk

Texte von Hanspeter Künzler

The Jim Kweskin Jug Band

Garden of Joy (1967)

Im New Yorker Bohemien-Stadtteil Greenwich Village gab es nicht nur bierernste Troubadoure mit Dylan-Ambitionen. Es gab auch Künstler wie die Jim Kweskin Jug Band, denen es nebst folkiger Archäologie vor allem um den Spaß an der Sache ging. Zum Instrumentarium der Band gehörten Kazoo, Waschbrett, Klarinette und Seifenkistenbass, das Stilspektrum reichte vom Bluegrass über beschwingte „Old Time“-Schlager bis hin zur charmant-ironischen Version von „Gee Baby, Ain’t I Good To You“. GARDEN OF JOY war das sechste Album der Combo und erschien beim Label Reprise. Zur Besetzung gehörte nebst Kweskin-Gitarrist Geoff Muldaur und der Wunderstimme Maria Muldaur auch der Ausnahme-Geiger Richard Greene.

Kaleidoscope

Incredible!(1969)

Die erste Band des pionierhaften Multi-Instrumentalisten David Lindley bediente sich an einem ähnlich breiten Buffet von heimatlichen und exotischen Folk-Stilen und -Instrumenten wie anderswo die Incredible String Band. Nur fiedelten die kalifornischen Kaleidoscope (nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen britischen Psychedelikern!) mit wesentlich mehr Elektrizität, Perkussion und Westküsten-Craziness. Stand-Out- Track auf ihrem dritten Album ist das elfeinhalbminütige „Seven-Ate Sweet“ – Amon Düül 2 im kalifornischen Acid-Folk-Rock-Kostüm.

Dr. Strangely Strange

Heavy Petting (1970)

Mit ihrem Debütalbum KIP OF THE SE-RENES hatte das Dubliner Trio von Ivan Pawle, Tim Booth und Tim Goulding ein in seiner schrulligen Hippiehaftigkeit kaum zu übertreffendes Zeitzeichen gesetzt. Musikalisch ist ihr Zweitling aber wesentlich nahrhafter. Vermehrt von Elektrizität getrieben, swingen Harmonium, Orgel, Flageolet und Mandoline aufs Göttlichste. Gastdrummer Dave Mattacks und -Gitarrist Gary Moore (ja, der: 16 Jahre alt) sorgen dazu für handfeste Riffs und Rhythmen. Ferner gibt’s witzige Texte und eine Stimmung wie sonst höchstens in einem weihrauchgeschwängerten Dubliner Pub.

Dando Shaft

Dando Shaft (1971)

Dem Foto nach zu schließen, das sich über das ganze innere Fold-Out-Sleeve erstreckt, saß bei den Konzerten von Dando Shaft Tabla-Spieler Ted Kay zuvorderst auf der Bühne. Die Band stammte aus dem englischen Coventry, zur Besetzung gehörte der Mandolinen-Virtuose Martin Jenkins, für dieses zweite Album hatte man sich mit der Sängerin Polly Bolton zum Sextett erweitert. Trotz Tablas klingen Dando Shaft nie allzu exotisch, stattdessen deutlich beschwingter als die geistesverwandten Pentangle.

Mike Heron

Smiling Men With Bad Reputations (1971)

Nach sechs Jahren und sieben in ihrer Abenteuerlust ziemlich einmaligen Alben mit der Incredible String Band begab sich das rockigste Mitglied der schottischen Folk-Band mit diesem Album 1971 erstmals auf Solo-Pfade. Es halfen ihm dabei unter anderen The Who, die sich für ihren Part im großartigen „Warm Heart Pastry“ das Pseudonym Tommy &The Bijoux gaben, John Cale an Bass, Gitarre, Harmonium, Viola und Gitarre, Richard Thompson und der südafrikanische Saxofonist Dudu Pukwana. Entsprechend vielfältig klingt dieses Album -ein wahres Kaleidoskop aus ungewöhnlichen Folkrock-Tönen. Es folgten acht weitere Solo-Platten, zuletzt erschien 2005 das Album ECHO COMING BACK.

Anne Briggs

The Time Has Come (1971)

Die Lieder von Anne Briggs -vorgetragen nur mit Gitarre und Bouzouki -wurden einerseits von ihrer Vorliebe für das traditionelle englische Liedgut, andererseits von Briggs‘ nomadenhaftem Lebensstil geprägt. Eine Weile lang lebte und wirkte sie mit dem irischen Folk-Pionier Johnny Moynihan und reiste mit einem Pferdewagen durch Irland, um dort in Pubs zu singen. Nach diesem zeitlos schönen zweiten Album zog sie sich auf eine schottische Insel zurück. Seither hüllt sich eine der markantesten englischen Folk-Stimmen weitgehend in Schweigen, angeblich betrieb sie zuletzt eine Großgärtnerei. Randnotiz: The Decemberists betitelten ihr Album THE HAZARDS OF LOVE zu Ehren von Briggs nach Briggs‘ gleichnamiger ersten EP von 1964.

C.O.B.

Moyshe McStiff And The Tartan Lancers Of The Sacred Heart (1972)

Nach dem Debüt hatten Clive Palmer und sein Banjo genug von den kommerziellen „Kompromissen“ der Incredible String Band. Über Afghanistan und Indien landete er in Cornwall, wo er Clive’s Original Band gründete. Knorrige Stimmen, eigenwillige Instrumentierung (Balalaika, Congas, Klarinette, Dulcitar) und Lieder, deren Stimmung gleichzeitig nach Kirche und der urtümlichen Moorlandschaft von Cornwall riechen, ergeben eines der ungewöhnlichsten, unbezähmbarsten und schönsten (inzwischen auch teuersten) Alben, das in England je erschienen ist.

Bridget St. John

Thank You For…(1972)

Nach zwei mit allerhand Streichern ausgerüsteten Kammer-Folk-Alben öffnete die John-Peel-Entdeckung Bridget St. John mit diesem Album die Flügel. Das dunkle, mysteriöse Timbre ihrer Stimme passt wunderbar zu einer federleichten Produktion mit Gästen wie John Martyn, Andy Roberts, Pip Pyle und der Pedal-Steel-Gitarre von Gordon Huntley. Das düstere „Lazarus“ ist ein Höhepunkt, Dylans „Love Minus Zero, No Limit“ passt bestens in die Umgebung.

Diverse

Morris On (1972)

Morris ist – grob gesagt – ein englischer Volkstanz, bei dem Trachtengruppen zum Sound von Akkordeon-und Concertina-Polkas im Kreise hüpfen. Für dieses gutgelaunte Album vereinten sich Folk-Adlige wie Richard Thompson, Ashley Hutchings, Barry Dransfield und Dave Mattacks, um einem „uncoolen“ Musikstil zur Renaissance zu verhelfen. So verschmilzt das traditionelle Schuhgeklapper der Chingford Morris Men mit der elektrischen Brisanz Richard Thompsons.

Gabriel & Marie Yacoub

Pierre De Grenoble (1973)

Dem Vorbild von Steeleye Span und Fairport Convention folgend, versuchten sich bald auch französische Bands in der Fusion von traditioneller Musik und elektrischer Gitarre. So schuf der bretonische Harfenspieler Alan Stivell eine Sensation, als er seinen euphorischen Folkrock 1973 zum Cambridge Folkfestival brachte. Kurze Zeit später präsentierte Gabriel Yacoub, der Gitarrist in der Stivell-Band, mit diesem faszinierenden Album seine eigene Folk-Rock-Vision. Dazu gehören Elemente aus Renaissance-Musik, altertümliche Instrumente wie Bombarde, Tabor und Psalter, und die Fernweh-Stimme von Marie Yacoub. Die Yacoubs formierten später die Band Malicorne.

Steve Ashley

Stroll On (1974)

Robert Kirby (u. a. Nick Drake) schrieb die Arrangements – darunter das von „Candlemass Carol“ für Blockflöten und Tablas. Auch die Songs sind erste Sahne -sie bewegen sich im Grenzgebiet von Tradition und zeitgenössischem Singer/Songwritertum („Fire And Wine“ etwa gehörte zum Repertoire von Anne Briggs). Später war Ashley Mitgründer der Albion Country Band und tingelte mit allerhand anderen Gruppen durch die kleineren englischen Folk-Clubs. Wäre dieses Album bei Island erschienen, hätte seine Karriere eine andere Kurve gezogen.

The Bothy Band

The Bothy Band (1975)

Bouzouki- Virtuose Dónal Lunny aus Tullamore, County Offaly, formierte die Bothy Band gleich nach seinem Ausstieg bei Planxty, der wohl wichtigsten traditionell ausgerichteten irischen Band überhaupt. Das Sextett (Flöten, Uillean Pipes, Gitarre, Geige, Cembalo etc.) gewann den alten Jigs und Liedern unglaublich viel Swing, aber auch sehr viel Wärme ab. Die Gesangseinlagen von Lunny und Triona Ní Dhomhnaill sorgten zusätzlich für Abwechslung und besinnlichere Töne. The Bothy Band zeigte, dass Folk auch elegant sein konnte, ohne in die Höflichkeit abzurutschen.

Nic Jones

Penguin Eggs (1980)

Schon 1967 veröffentlichte der Geiger und Gitarrist Jones sein erstes Album, danach wirkte er zumeist als Begleitmusiker für allerhand Folk-Größen. Zu seinem eigenen Stil fand er erst im Folkie-Ödland der späten 70er-Jahre. Dieser Stil wird geprägt von einer stupenden Gitarren-

The Captain Matchbox Whoopee Band

Smoke Dreams (1973)

Ursprünglich war Jug-Band-Musik teils Gimmick, teils Lebensnotwendigkeit: Es ging darum, Instrumente zu finden, die nichts kosteten, Waschbrett statt Schlagzeug also und Gießkanne statt Bass. Das Folk-Revival der Sixties verhalf auch dieser Musik zur Renaissance. Bis nach Australien! Das Debütalbum des haarigen Septettes aus Melbourne sprüht nur so von Spielwitz und, ja, Virtuosität. In den USA erschien die LP notabene beim Avantgarde-Label ESP -wie die von Sun Ra, Albert Ayler und die zumindest stilistisch ähnlichen Fugs. technik, fein gestrickten Arrangements für Geige und Melodeon, dazu Jones so subtilem wie lässigem Gesang und einer superben Auswahl von zumeist traditionellen und doch keineswegs musealen Liedern. Es ist Jones‘ bisher letztes Album. Bei einem Autounfall im Jahr 1982 wurde er schwer verletzt; erst 2010 trat er wieder live auf.

The Johnson Mountain Boys

Let The Whole World Talk (1987)

Auf dem Cover tragen die fünf Johnson Mountain Boys aus Washington D. C. verdächtig synthetisch aussehende, beige-graue Anzüge, rote Krawatten und weiße Hemden, dazu grinsen sie wie die Maikäfer. Das Quintett verfügte über vier Sänger, zwei Geiger, Gitarre, Mandoline und Banjo und gehörte fest zum amerikanischen Establishment. Weitab vom coolen Zeitgeist sammelte es Grammy-Nominierungen und andere Awards zu Hauf. Und machte stil-und freudvoll zeitlose Bluegrass-Musik.

Martin Simpson

When I Was On Horseback (1991)

Simpson, ein hervorragender Gitarrist, gehörte der Albion Country Band an und arbeitete oft mit June Tabor. Dann heiratete er eine Amerikanerin, zog in die Staaten und wurde vergessen. Vor einiger Zeit ist er in seine Heimat zurückgekehrt und gehört nun prompt wieder zu den großen Namen im Folkgeschäft. Seine US-Alben aber kennt keiner. Schade: Diese ruhige Sammlung von abgeklärten Instrumentalversionen von Traditionals ist eine erhebende Demonstration von Ausdruckskraft an der Gitarre.

King Creosote

Kenny And Beth’s Musakal Boat Rides (2003)

Als diese erste offizielle CD des Schotten in die Läden kam, hatte Kenny Anderson im Rahmen seines inzwischen legendären Fence Collectives bereits zwei Dutzend Alben in DIY-CD-R-Form verschickt. Hier zeigen sich all seine Qualitäten in Reinkultur: handgestrickte Samples, Akordeon, Gitarre, eine surreale Fantasie und ein endloses Reservoir von feinen Songs. Mit dem Erfolg seiner Tricks hat das Fence Collective praktisch im Alleingang eine neue Brit-Folk-Welle gestartet. Und vielleicht ist „Lavender Moon“ das schönste Lied der Nullerjahre.

Rachel Unthank & The Winterset

Cruel Sister (2005)

Das Debütalbum der Unthank-Schwestern – heute treten sie als The Unthanks auf – aus der menschenleeren Grafschaft Northumberland ist ein Klassiker des modernen Umganges mit altem Liedgut. Beeinflusst von Robert Wyatt und Steve Reich ebenso wie den Watersons, bedienen sie sich auch mal des Klavieres – ein rarer Vogel in der Folk-Welt. Nebst der spannenden Auswahl von Songs überzeugen die Unthanks mit variantenreichen Arrangements und – vor allem – den schwesterlich-innigen Gesangsharmonien.

Robin Williamson

The Iron Stone (2006)

Dass der Mitbegründer der Incredible String Band 40 Jahre später Platten beim Münchener Jazz-Label ECM veröffentlichen würde, war keine Überraschung: Der Mann hat noch nie einer Herausforderung widerstehen können! THE IRON STONE ist sein drittes ECM-Album. Keine leichte Kost -aber die (geistige) Welt, die der Barde hier für uns heraufbeschwört, ist so herrlich dramatisch wie das Coverfoto.

Sibylle Baier

Colour Green (2006)

Die deutsche Schauspielerin -sie spielte 1974 in Wim Wenders‘ Roadmovie „Alice in den Städten“ – wanderte in die USA aus und wäre wohl vergessen worden, wenn ihr Sohn nicht eine Kassette von den Liedern, die sie zwischen 1970 und 1973 alleine zu Hause aufgenommen hatte, an J. Mascis weitergereicht hätte. Das neue alte Album ist heute ein Vademecum in der Szene. Sibylle Baier ist heitere Nico und weiblicher Leonard Cohen in einem. Und wäre ihre Stimme ein Hauch tiefer, könnte sie auch Francoise Hardy sein.

Bonnie „Prince“ Billy & Harem Scarem & Alex Neilson

Is It The Sea?(2008)

Als Teenager lernte Will Oldham einen schottischen Musikfan kennen, der ihn seither regelmäßig mit Brit-Folk versorgt. Oldham hat noch nie verheimlicht, dass hier eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen liegt. Die Seelenverwandtschaft zeigt sich auf diesem Live-Album wunderbar. Es wurde in Edinburgh mit dem schottischen Quartett Harem Scarem aufgenommen, mit dem Bonnie „Prince“ Billy seither öfter zusammengespielt hat.

Johnny Flynn

A Larum (2008)

Johnny Flynn ist das Produkt einer neuen Generation von Folk-Clubs in London. Der rustikale Folkrock, den er zwischen seinen Jobs als Schauspieler kredenzt, liegt näher an der heiteren Musik von Ronnie Lane und Slim Chance als bei Fairport Convention. Den Ton dominieren Geige, Banjo und Drums, aber auch Posaune, Trompete und Cello mischen mit. Feine Texte, unaufdringliche Gitarrenvirtuosität, Spielwitz und muntere Refrains sind weitere Stärken.

Duck Soup

Open On Sundays (2010)

Ein Hang zur Exzentrik gehörte schon immer zur Folk-Szene – man betrachte das Cover des ersten Solo-Albums von Richard Thompson. Das Trio Duck Soup bewegt sich stolz in dieser Tradition. Zur Instrumentierung gehören Melodeon, Dobro, Marimba und ein Museumsstück namens Phonofiddle. Damit spielen Duck Soup heitere Polkas, Walzer und Mazurkas fürs Tanzbein. Mit ihrer Musik sorgt die kuriose Besetzung für eine eigenartige Fernwehstimmung.

9Bach

Tincian (2014)

Männerchor und Harfe gehören ebenso zur minimalistisch arrangierten Klangwelt dieser Band aus Wales wie Klavier, Effektpedal, ein Hauch Elektronik und Laurie Andersons „O Superman“. Im Vordergrund steht aber immer die schwerelose Stimme von Lisa Jen, die auch die meisten Songs geschrieben hat (das Debütalbum vor fünf Jahren hatte noch ganz aus Traditionals bestanden). 9Bach klingen, als kämen sie auch mit einem Brian Eno gut klar, machen dabei aber eine Musik, die von der Zeit alleingelassen worden zu sein scheint.

Tom Paley’s Old-Time Moonshine Revue

Roll On, Roll On (2012)

Tom Paley sang einst an der Seite des legendären Folkbarden Woody Guthrie. Paley und seine New Lost City Ramblers waren in der Folkszene von New Yorks Greenwich Village in den frühen Sixties unterwegs und übten nachhaltigen Einfluss auf zahlreiche andere Musiker aus – das schreibt auch Bob Dylan in seinen „Chronicles“. Seit Jahren lebt Paley aber in London und beseelt einige privilegierte Folk-Clubs mit seiner schlauen Präsenz. Zusammen mit einer flotten jungen Old-Time-Band präsentiert er hier eine stilsichere Auswahl von dynamisch vorgetragenen Songs, die von Blind Boy Fullers „Keep On Trucking, Mama“ bis hin zur Eigenkomposition „Beelzebubbles“ reicht.

Rock

The Remains

The Remains (1966)

Nomen est omen? „Die Reste“ blieben tragische Randfiguren der Beat-Bewegung. Der claim to fame der meisterlich produzierten Bostoner Garagen-Rocker war ihr Opening-Slot bei der letzten US-Tour der Beatles 1966. Noch im selben Jahr lösten sie sich wegen ausbleibendem kommerziellen Erfolg auf. Der war ihnen trotz begeisterter Kritiken und bester PR (ein Auftritt bei der „Ed Sullivan Show“) nicht vergönnt. Ende der 90er-Jahre taten sie sich wieder zusammen, touren seither sporadisch und nahmen 2003 ein überflüssiges zweites Album auf. 2007 war ihr Song „Why Do I Cry“ im Seth-Rogen-Filmhit „Superbad“ zu hören, im Jahr darauf kam eine Dokumentation über sie, „America’s Lost Band“, in vereinzelte Kinos. scr

The Music Machine

(Turn On) The Music Machine (1966)

116 Sekunden reichten The Music Machine, sich unsterblich zu machen: Und doch wäre es ungerecht, die kalifornische Band um den visionären Sean Bonniwell auf „Talk Talk“ zu reduzieren, einen der explosivsten und effektivsten Songs der ersten amerikanischen Garagenpunk-Welle der Mittsechziger. Bonniwell kleidete seine Band in Schwarz, trug selbst dazu als Markenzeichen immer noch einen schwarzen Handschuh und lieferte einen aggressiv-bedrohlichen und basslastigen Sound, der die düstere Vision der Doors vorwegnahm. cw

The United States Of America

The United States Of America (1968)

Ein Garten außerirdischer Genüsse erwartet den Zuhörer auf der einzigen LP der Westküstengruppe um Keyboarder Joe Byrd, die sich mit Ausnahme von The Red Krayola und Fifty Foot Hose weiter in den Orbit hinauswagt als jede andere US-Gruppe der psychedelischen Ära: Unruhiger und beunruhigender als die eher zurückgelehnten tonangebenden Bands der Ära -Grateful Dead, Jefferson Airplane – werden die musikalischen Mantras mit östlichen Rhythmen und dem Schwirren eines Ringmodulators auf Bewusstseinserweiterung getrimmt: Songs wie „Love Song For The Dead Che“ stoßen die Pforten der Wahrnehmung so weit auf, dass Krautrock, Space Rock und Prog später hindurchspazieren konnten. Nach einem Album war Schluss. Byrd machte mit den Field Hippies weiter und veröffentlichte das grandiose THE AMERICAN METAPHYSICAL CIRCUS. cw

Bonzo Dog Doo-Dah Band

Gorilla (1968)

Wem die K inks noch nicht britischverkauzt genug sind, der liegt richtig bei der Bonzo Dog Doo Dah Band, Englands exzentrischer Antwort auf die unberechenbaren amerikanischen Bürgerschreck-Attacken eines Frank Zappa und der Fugs. Vom traditionellen Jazz kommend und mit beiden Beinen fest in der Tradition von Vaudeville und Music Hall verortet, attackiert der Trupp anarchischer Kunststudenten in seinem Debüt die Scheinheiligkeit und Selbstgefälligkeit des Königreichs mit einem dadaistischen Mix aus Rock und Comedy, der da ansetzt, wo die Beatles in ihren verquastesten Momenten aufgehört haben. Ein unüberhörbarer Einfluss auf Monty Python. Death Cab For Cutie haben ihren Namen einem Song des Albums entlehnt. cw

SRC

Milestones (1969)

Wenn es um auf elf gedrehte Gitarrenverstärker ging, gab es Ende der Sechziger keine zuverlässigere Stadt als Detroit: MC5 und The Stooges bildeten die Speerspitze, aber im zweiten Glied ließen Bands wie The Litter und Frijid Pink die Gitarren in nicht minder donnernden Riffsalven aufh eulen. Besonders gut und besonders vergessen: SRC (The Scot Richard Case), deren bekanntestes von drei Alben das erste ist, aber Nummer zwei, MILESTONES, ist die Platte, auf die es ankommt, weil sie in einem Wirbelsturm aus jaulendem Feedback und jubilierenden Soli die Sechziger abschüttelt und die Siebziger willkommen heißt. cw

Coven

Witchcraft Destroys Minds & Reaps Souls (1969)

Bevor Black Sabbath und Black Widow den Okkultismus für den Heavy Metal vereinnahmten, hatten bereits Coven aus Chicago das Kruzifix umgedreht: Auf ihrem ersten Album zelebrierte die Band zum Abschluss eine 13-minütige „Satanic Mass“, auf der Innenseite des Klappcovers sieht man erstmals Musiker, die mit den Händen das Zeichen des Gehörnten formen. Die Musik trägt zwar beschwörerische Züge, wenn Sängerin Jinx Dawson ihre heidnischen Gesänge über weiße Hexen, Abmachungen mit Luzifer und fleischliche Lust anstimmt, aber sie sind nicht in Hardrock eingebettet, sondern in eine gewagte Mischung aus Psych und mittelalterlichem Folk. Als die Presse Parallelen zwischen der Message von Coven und den Manson-Morden zu entdecken glaubte, nahm Mercury das Album vom Markt. cw

Black Merda

Black Merda (1970)

Die erste komplett schwarze Rockband Amerikas. Schwer Hendrix-verseucht und in dichte Dopeschwaden gehüllt, aus denen sich eindringliche Stücke über die schwarze Experience schälen. Großartig, wie sie Südstaaten-Swampblues mit Elementen des Psych und Funk vermengt und mit beschwörenden Gesängen unvergesslich macht: Songs wie „Cynthy-Ruth“ oder „Prophet“ bilden die Brücke von Hendrix zu den rockigen Ausflügen von Funkadelic. cw

Audience

The House On The Hill (1971)

Vier Monate nachdem Audience ihr weitgehend ignoriertes, viertes und letztes Album LUNCH veröffentlicht hatten, tänzelten ihre britischen Landsleute Roxy Music mit ähnlichem Art Rock geradewegs in die UK-Top-Ten. Ausgebrannt von drei Jahren Dauertour und enttäuscht über miese Verkaufszahlen trennte sich die Band um Sänger Howard Werth. Ihr bestes Album (sie haben kein einziges nicht gutes) THE HOUSE ON THE HILL wühlt auch heute noch auf und Songs wie der bittersüße Glamrocker „You’re Not Smiling“ stehen in einer Reihe mit Enos „Needles In The Camel’s Eye“ und Bowies „Changes“. scr

The Sensational Alex Harvey Band

Framed (1972)

Nach einem Gastspiel bei Rock Workshop schloss sich der charismatische Sänger Alex Harvey mit den Proto-Metallern Tear Gas zusammen und zog einen wüsten Zirkus auf, der Songs von Jacques Brel und Tom Jones zu einem theatralischen Rockverschnitt verarbeitete. Auf dem ersten Album von 1972 mischen sich die schweren Gitarrenriffs von Zal Cleminson mit Harveys Gummizellengesang zu einem Glamspektakel irgendwo zwischen Mott The Hoople und Slade: „Isobel Goudie“ bildet den Höhepunkt, eine Mischung aus Mini-Oper und Jahrmarktsgesang, die auf siebeneinhalb Minuten eine einzigartige Spannung aufb aut. Es war der Genuss dieses Albums, der Bon Scott Sänger einer Hardrockband sein lassen wollte. cw

Heavy Metal Kids

Heavy Metal Kids (1974)

Vielleicht hat das „Heavy Metal“ im Bandnamen abgeschreckt, aber wenn man das Debüt der Cockney-Band um den manischen Gary Holton heute anhört, wird man mitgerissen von der Lust am puren Abrocken, als hätte Bowie vergessen, Make-up aufzulegen: Wenn die Kids ihren antiautoritären Pubrock abspulen -die Hits: „Hangin‘ On“,“Ain’t It Hard“,“We Gotta Go“ -, will man nicht glauben, dass Rock’n’Roll im Jahr zwei vor Punk von Rechts wegen am Tropf hing. cw

The Flamin‘ Groovies

Shake Some Action (1976)

Zu Beginn der Siebziger hatten die Flamin‘ Groovies die Fahne des Rock’n’Roll hochgehalten, als andere Bands begannen, Keyboards aufeinanderzustapeln. Superstartum war nur eine Frage der Zeit, hatte sich aber auch fünf Jahre später nicht eingestellt. Nach einer Reihe Personalwechseln galten die Groovies als abgeschrieben, als sie den Befreiungsschlag wagten, mit dem besten Album der British Invasion, das je eine US-Band eingespielt hat: geradliniger Rock im Stil der Pretty Things oder frühen Them, frei von Mätzchen und Allüren. cw

Klaatu

3:47 EST (1976)

Das erste Album der kanadischen Formation schlug bei Erscheinen hohe Wellen, weil die Fachwelt allen Ernstes vermutete, hinter Klaatu – benannt nach dem Alien im Sci-Fi-Klassiker „Der Tag, an dem die Erde stillstand“- könnten sich die Beatles verbergen. Nope. Es ist aber nicht das schlechteste Kompliment. Und ein Hinweis darauf, dass sich hinter dem Mid-70s-Pomp im Stil von Supertramp oder den Sparks beachtliches Songhandwerk verbirgt -und mehr Subversion, als man glauben will: Schon der siebenminütige Opener „Calling Occupants Of Interplanetary Craft“ lässt einen mit seiner Anmut die Waffen strecken. cw

The Soft Boys

Underwater Moonlight (1980)

„I Wanna Destroy You“, lässt einen Robyn Hitchcock auf dem ersten Track des besten Albums seiner Soft Boys wissen, die schwer einen auf Punk machen, aber im Spannungsfeld der Wipers und des frühen Tom Petty vor allem eine großartige Popband mit Hang zur Subversion waren. Die sirrenden Gitarren der Byrds fallen einem ein, wenn man „Underwater Moonlight“ hört. Die dissonanten Akkordfolgen hat Hitchcock bei seinem Idol Syd Barrett geklaut. Das ist nie aufgesetzt, weil die Gruppe ihre Einflüsse untrennbar in ihrer DNS verankert hat. R. E. M., die Replacements und alle anderen, die in den Achtzigern laut Gitarre spielten, haben genau zugehört. cw

Brainchild

Healing Of The Lunatic Owl (1970)

Die Bläsersätze von Chicago und Blood, Sweat &Tears waren so spitz, dass ihre lange nicht für möglich gehaltene Fusion von Rock und Jazz bis nach Großbritannien drang. Von den Bands aus dem Untergrund, die die Botschaft aufgriffen und auf ihre ureigene Weise mit Elementen des Prog verbanden, gehören Brainchild zu den obskursten: Ihr einziges Album verhallte ungehört. Was eine Schande ist, weil sich Tracks wie „Autobiography“ und „Two Days“ jederzeit mit den amerikanischen Vorbildern messen lassen. Und wenn die Welt eine gerechte wäre, würde man „She’s Learning“ mit seinen heulenden Brass-Stabs und dem galoppierenden Rhythmus in einem Atemzug mit den großen Rock-Klassikern von 1970 nennen. cw

Masters Of Reality

Masters Of Reality (1989)

Über Masters Of Reality stolperte man bei der Erstveröffentlichung ihres Debüts eigentlich nur, wenn man Platten deshalb kaufte, weil sie von Rick Rubin produziert wurden. Der Name des Produzenten als Verheißung. Und diese Band als Heilsbringer einer in den späten Achtzigern längst als ausgestorben geltenden Spielart -psychedelisch angehauchter Hardrock, der an den Blues von Cream erinnerte und den Groove von Captain Beyond. Heute weiß man, dass es sich bei dem auch als „Blue Garden“ bekannten Album um die Geburtsstunde des Retro-Rock handelte, das Ground Zero des Stoner Rock. cw

Ozric Tentacles

Erpland (1990)

In den bislang 31 Jahren ihres Bestehens hat die von den Chemical Brothers verehrte und von Future Sound Of London gesampelte Instrumental-Rockband aus dem englischen Somerset 29 Mitglieder verschlissen, 14 Alben auf obskuren Minilabels veröffentlicht – und insgesamt davon mehr als eine Million Platten an ihre loyale Gefolgschaft verkauft. ERPLAND ist ihr zweites Studiowerk und gilt gemeinhin als das Magnum Opus der mysteriösen Truppe: eine erfreulich zugängliche, bewusstseinserweiternde und kopfschüttelbare Mischung aus Progressive und Space Rock. scr

The Stairs

Mexican R’n’B (1992)

The La’s ebneten den Weg für 60s-Beat-Revivalsound. Wie sie unterschrieben auch die ebenfalls aus Liverpool stammenden Stairs beim Londoner Indie Go!Discs (Paul Weller, Billy Bragg). Doch niemand wollte sie auf ihrem Weg zurück in die Vergangenheit begleiten: Ihr einziges, stark von den Rolling Stones, The Who und -was den Gesangsstil Edgar Summertymes betrifft – den Trashmen beeinflusstes Album, erreichte erst Jahre später Kultstatus. scr

Chainsaw Kittens

Flipped Out In Singapore (1992)

Die Smashing Pumpkins nahmen gerade GISH mit Butch Vig auf, als dieser das Debüt der Chainsaw Kittens aus Oklahoma, VIOLENT RELIGION, geschickt bekam und im Studio vorspielte. Billy Corgan soll vor Begeisterung ausgerastet sein und Butch dazu überredet haben, den Nachfolger FLIPPED OUT IN SINGAPORE zu produzieren. Der Sänger der Band, Tyson Meade, wurde als „Godfather Of Alternative Rock“ bezeichnet und gilt als eins der größten Idole Kurt Cobains. Gänzlich unverständlich, warum er es mit seiner hymnischen Mischung aus Glam, Punk und Grunge neben Soundgarden und den Lemonheads nicht nach oben geschafft hat. scr

Tripping Daisy

Jesus Hits Like The Atom Bomb (1998)

Mit ihrem dritten Album ließen die Texaner den Grunge hinter sich und verwandelten sich in so etwas wie die mittleren Flaming Lips. Von der opulenten Mischung aus Powerpop und Psychedelia fiel zumindest der Collegeradio-Hit „Sonic Bloom“ ab. Aufgrund ausbleibender Promotion durch ihr Label Island Records, das damals stark umstrukturiert wurde, floppte das durchwegs eingängige Sonnenschein-Album. Als einziger Arm in die Zukunft erwies sich Neuverpflichtung Ben Curtis am Schlagzeug, der später die deutlich erfolgreicheren Secret Machines und School Of Seven Bells gründen sollte und Ende 2013 an Krebs starb. Nach dem Drogentod ihres Gitarristen Wes Berggren gaben Tripping Daisy 1999 ihren Split bekannt. scr

Surrogat

Rock (2000)

„Gib mir die Stadt, gib mir das Land, gib mir den Staat, gib mir alles“: Patrick Wagner, Sänger und Gitarrist der Berliner Surrogat, wollte nicht weniger als: eben, alles. Das Gegenteil bekam er: Der Pop-Intelligenzija war die Wandelung seiner Band vom Noise-Pop zum Atzedatze-Rock zu prollig, den Bierdosenträgern schmeckte ROCK zu sehr nach Ironie. Und mit Selbstbezeichnungen wie „größer als Gott“ machte sich Wagner, der Megalomanie wie kein anderer hiesiger Musiker kultivierte, auch nur überschaubar Freunde. Etwas Abstand zeigt, was damals verkannt wurde: brutal(-gut)e Riffs und eine von ganz wenigen deutschen Bands, die klar und unkorrumpierbar ihre Vision verfolgt. scr

Sleep

Dopesmoker (2003)

Nachdem den kalifornischen Stoner-Doom-Metallern mit SLEEP’S HOLY MOUN-TAIN ein Kritikererfolg gelungen war, hatten sie 1996 das Selbstvertrauen, das Nachfolge-Album mit nur einem Song zu bespielen, dem brachialen „Dopesmoker“. Die Plattenfirma sagte Nein – auch zur geringfügig remixten Version von Dave Sardy namens JERUSALEM. Frustriert und verarmt trennte sich die Band. Nach zahlreichen Bootlegs erschien die Platte dann 2003 erstmals offi ziell. Rezensenten flippten aus und bejubelten die Platte als Meilenstein des Genres. Jim Jarmusch verwendete ein Exzerpt daraus für „Broken Flowers“. scr

Constantines

Shine A Light (2003)

Die Schatten, die SHINE A LIGHT auf das Feld der Rock-Landschaft geworfen hat, sind überschaubar. Das liegt aber nur daran, dass es seit 2003 niemand geschafft hat, dieses Album korrekt zu entschlüsseln und seine Wucht zu rekreieren, ohne dass ein vitaler Teil verlorengeht. Die Mischung aus Post-Hardcore (Fugazi), klassischem US-Indie (Guided By Voices) und Art-Rock (Gang Of Four) klingt nur in den Händen der Constantines so straff, so zündend und so brachial wie auf SHINE A LIGHT. Die erste Constantines-Platte wird von Fans heißer geliebt, aber das beste – weil beständigste -Album der kürzlich wiedervereinten Kanadier ist das hier. msc

The Thermals

The Body, The Blood, The Machine (2006)

Das dritte Album des Indie-Rock-Trios ist ein Konzeptalbum für die ADS-Generation. In 35 Minuten erzählt Frontmann Hutch Harris die Geschichte eines dystopischen, von fanatischen Christen geführten Regimes und einer Handvoll agnostischer Widerstandskämpfer. Sodom und Gomorra, die Arche Noahs und die Apokalypse dienen als Bilder für das Gebaren der Neocon-Regierung um George W. Bush, und Harris bellt seine Zeilen mit einer Dringlichkeit, dass man einen Atomschutzbunker bauen und ihn mit Dosennahrung vollstellen will. Ex-Fugazi-Drummer Brendan Canty poliert die Lo-Fi Produktion der ersten zwei Thermals-Alben ein bisschen auf – mit dem Ergebnis, dass THE BODY … eine Ecke weniger rumpelt, aber immer noch rockt wie Sau. msc

No Age

Nouns (2008)

Zwischen 2005 und 2008 war der Club „The Smell“ in L. A. der Brutkasten für eine kleine und spannende Noise-Pop-Szene: Bands wie Abe Vigoda, und Best Coast spielten dort vor All-Ages-Publikum ungestüme DIY-Shows und nutzten die Räumlichkeiten als zweites Wohnzimmer. Auch das Duo No Age entstammt diesem Kreis. Ihr Debütalbum NOUNS ist immer noch ein bemerkenswert schlüssiges Hörerlebnis, obwohl die gejaulten Texte unter den schrillen Shoegaze-Gitarren, die im Punk-Tempo malträtiert werden, fast untergehen. Das Fehlen einer Bassgitarre verleiht Sonnyboy-Songs wie „Eraser“ und „Sleeper Hold“ eine metallische Kante, und ab und an wird in kalifornischer Tradition einfach drauflosgejammt. Besser kann man eine halbe Stunde kaum verbringen. msc

Destruction Unit

Deep Trip (2013)

Nach der Stilübung in Gothic Punk namens VOID fanden die Wüstensöhne aus Arizona auf DEEP TRIP ihren Sound: Er setzt sich mehrheitlich aus Flanger-und Reverb-Effekten für die drei E-Gitarren zusammen und versetzt einen gedanklich in einen Windkanal, in dessen Eingang präzise Prügelriffs und säureversetzte Löschblätter geblasen werden und an dessen Ausgang die Hölle wartet. Ein Nonstop-Trip, in dem es kein Erbarmen und aus dem es bis zum bitteren Ende kein Erwachen gibt. In der ersten Besetzung der damals noch Lost Sounds benannten Band spielte Jay Reatard. scr

Jazz

Duke Ellington/Charlie Mingus/Max Roach

Money Jungle (1963)

Als MONEY JUNGLE veröffentlicht wurde, hatte Duke Ellington schon seinen gebührenden Platz im „Great American Songbook“. Der Komponist, Pianist und Bandleader war damals 63 Jahre alt; seine erste Komposition, den „Soda Fountain Rag“, hatte er gut 50 Jahre vor diesen Aufnahmen geschrieben. Charles Mingus (40) und Max Roach (38) waren zwei radikale und politisch motivierte Exponenten des „New Thing“, deren vornehmste Aufgabe es schien, mit den Traditionen zu brechen. Das Ergebnis dieses Generationentreffens klingt atemberaubend. Das Piano-Bass-Schlagzeug-Trio bewegte sich zwischen Tradition und Moderne, zwischen Hard Bop und Freejazz, zwischen Lyrizismus und gebremstem Expressionismus. Wunderbar, wie das Trio „Caravan“, einen der größten Hits Ellingtons aus den 1930er-Jahren, zeitgemäß uminterpretiert. ko

AMM

AMMMusic (1966)

Die vermeintliche Freiheit des amerikanischen Freejazz ging den Londoner Musikern Cornelius Cardew, Lou Gare, Eddie Prévost, Keith Rowe und Lawrence Sheaff nicht weit genug. Sie gründeten 1965 die Gruppe AMM, die radikale elektro-akustische Improvisationen aufführte und damit einmal ins Vorprogramm von Pink Floyd kam. Eine permanente Anspannung liegt über diesen Strukturen, die die simplen heroischen Erlösungsmechanismen Strophe-Refrain-Strophe in der Musik negiert. Piano, Cello, Tenorsaxofon, Violine, Gitarre, Percussion und Transistorradio werden bis zur Unkenntlichkeit gespielt. ko

Roscoe Mitchell Sextett

Sound (1966)

Das Debüt des Multiinstrumentalisten Roscoe Mitchell als Bandleader. Es war die erste Platte, auf der die Mitglieder der kurz zuvor gegründeten Association For The Advancement Of Creative Musicians (AACM) zu hören waren und die Keimzelle des Art Ensemble Of Chicago -neben Mitchell spielten Lester Bowie (Trompete) und Malachi Favors (Bass) auf SOUND. Die Eigenschaften, die das Art Ensemble später auszeichnen sollten, waren hier bereits angelegt: „artfremde“ Instrumente (Klarinette, Harmonika, Cello); das Verständnis von Freejazz als nicht ausschließlich auf emotionalem Anschlag gespielter Musik zugunsten einer ungehörten Dynamik. Die Einflüsse von Folk-und Popmusik auf den Jazz. Und: Humor. ko

Archie Shepp

The Magic Of Ju-Ju (1967)

Die Emanzipation der Jazzmusiker in den immer noch stark von Rassismus geprägten 1960er-Jahren begann mit der Rückbesinnung auf ihre afrikanischen Wurzeln. Archie Shepps Album THE MAGIC OF JU-JU ist ein frühes und radikales Beispiel für die Zusammenführung des Freejazz mit „weltmusikalischen“ Elementen. Im über 18-minütigen Titelstück lässt Archie Shepp sein Tenorsaxofon glorios und expressiv über einen afrikanischen Percussionteppich fliegen -fünf Percussionisten/Schlagzeuger, darunter Ed Blackwell und Beaver Harris, spielen sich dabei regelrecht in Trance. ko

Cecil Taylor

Conquistador!(1967)

Vielleicht war es die klassische Klavierausbildung, die in Cecil Taylor (Jahrgang 1929) den Wunsch nach musikalischer Freiheit auslöste. Ab Ende der 1950er-Jahre wurde der Pianist, Komponist und Poet zu einer der Hauptfiguren in der freien Jazzimprovisation. Das 1967er-Album CONQUISTADOR! steht exemplarisch für das perkussive, expressive Pianospiel des New Yorkers. Taylors verfrickelte, komplexe Improvisationen werden von der fünfk öpfigen Begleitband scheinbar mühelos aufgegriffen und weitergesponnen. Die Intensität der beiden LP-Seiten-langen Stücke wird immer wieder durch lyrische Passagen von Bill Dixons Trompetenspiel kontrastiert. ko

Roland Kirk

Volunteered Slavery (1969)

Acht Minuten lang zollt Roland Kirk in einem Medley dem großen John Coltrane Tribut, viel mehr aber zieht der Tenorsaxofonist auf diesem Album weite Kreise in den Soul und Funk -mit großen Gesangsmomenten. Im Titeltrack steuert die Band aus dem Gospel in einen vollkommen entfesselten Partysong, „Spirits Up Above“ fliegt so hoch wie ein Song von George Gershwin und landet auf dem Boden eines Schulhofes, wo ein Chor probt. Das Saxofon ist der Dienstbote des Herrn. Roland Kirk hat das einmal so formuliert: „God loves black sound“. fsa

Art Ensemble Of Chicago

Les Stances A Sophie – A Motion Picture Soundtrack (1970)

Fontella Bass und Lester Bowie. Die R’n’B-Sängerin („Rescue Me“) verleiht den heftigen Afroavantgardismen des Trompeters Volumen und Worte, ein Husband-And-Wife-Arrangement der überraschenden Art, dazu noch als Soundtrack für einen Film. Das Nouvelle-Vague-Werk „Les Stances à Sophie“ wäre wohl ohne diesen Soundtrack komplett in Vergessenheit geraten. Aber was heißt schon Soundtrack? Erst kam die Musik, dann wurde der Film gedreht, in dem die Band wiederum ihren Auftritt hat. Das Art Ensemble entwickelte in seiner Zeit in Europa einen teils lyrischen, teils sehr freien Umgang mit dem, was einmal Modern Jazz hieß; Bowie modernisierte das Moderne im Rückbezug auf Rhythmen und Melodien aus verstreuten afrikanischen Quellen. fsa

Alice Coltrane

Journey In Satchidananda (1971)

Wie weit ihre frühen Alben eine Fortsetzung der so kosmischen Beziehung zu John Coltrane nach dessen Tod 1967 wohl hören lassen? Alice Coltranes Werk wurde reflexartig auf Coltraneismen abgeklopft. Es ist eine tiefenentspannte Meditation, die Coltranes zweite Frau hier als Harfenistin und Pianistin hinlegt, durchwirkt vom entgeisterten Gefummel Charlie Hadens am Bass, Pharoah Sanders‘ Soprangesang auf dem Sax und Vishnu Woods Oud-Trips. Das Album als Soft Drone: Alice Coltrane sucht nach den Stimmen des Blues und findet sie in der liebkosenden Verlängerung der Klänge. fsa

Oliver Lake

NTU: Point From Which Creation Begins (1971)

Mit der Wiederveröffentlichung von Oliver Lakes Debüt erinnerte das Soul-Jazz-Label im vergangenen Jahr an eine der letzten großen Jazz-Revolutionen; Lakes Band aus St. Louis und das bekanntere Art Ensemble Of Chicago kratzten in weitläufigen Improvisationen die afrikanischen Wurzeln des Jazz frei. Lake lässt Alt-und Sopransax zwitschern und tirilieren, frei über den pulsierenden Rhythmen fliegend und sich später in den Zug der singenden Bläser einfindend. In den ersten 60 Sekunden von „Zip“ wird so etwas wie Jazz-Punk hörbar: Lake gibt die Zerreißproben auf dem Sax, die Pate gestanden haben müssen für James Chances No-Wave-Aufnahmen ein Jahrzehnt später. fsa

David Holland/Derek Bailey

Improvisations For Cello And Guitar (1971)

Eine ultrarare Aufnahme aus dem „Little Theater Club“ in London 1971. Rar nicht nur deshalb, weil IMPROVISATIONS FOR CELLO AND GUITAR bis heute nicht auf CD veröffentlicht wurde, sondern auch weil der Bassist Dave Holland (u.a. auf BITCHES BREW von Miles Davis zu hören) bei dieser Gelegenheit nicht Bass, sondern Cello spielte. Sein Kontrapunkt: der 2005 verstorbene Derek Bailey -der bedeutendste europäische Improvisationsmusiker auf der Gitarre. Holland und Bailey zerlegen die Tonleiter in mikroskopisch kleine Stücke. Improvisation heißt hier vor allem Interaktion, Antworten auf musikalische Fragen, die auch einmal in thematischen Abschweifungen gefunden werden. ko

The Jimmy Giuffre 3

Music For People, Birds Butterflies & Mosquitoes (1973)

Das Album, mit dem der Musiker, Komponist, Arrangeur und Musikdozent Jimmy Giuffre vielleicht dem Freejazz am nächsten kam, obwohl Welten zwischen den üblichen grellen Saxofonsoli und diesem Album lagen. Giuffre stand für Kammerjazz ohne Beat. Im Trio mit Kiyoshi Tokunaga (b) und Randy Kaye (dr) kam das Schlagzeug, aber der Kammerjazz blieb. Musik, die der lyrischen Interaktion der Beteiligten verpflichtet ist. Wunderbar nachzuhören in „Phoenix“, wo Giuffre Bilder von östlicher Spiritualität mit der Klarinette malt. ko

Brigitte Fontaine

Comme à la radio (1972)

Das ungewöhnlichste Album der französischen Sängerin, Schauspielerin und Schriftstellerin Brigitte Fontaine in einer Reihe an sich ungewöhnlicher Alben. COMME À LA RADIO nahm Fontaine mit ihrem Songwriterpartner Areski und dem Art Ensemble Of Chicago während deren zweijährigen Aufenthaltes in Paris auf. Der (Sprech-)Gesang Fontaines wird vom Art Ensemble eingebettet in eine beizeiten mystisch wirkende Musik, die stark perkussiv von afrikanischer Rhythmik geprägt ist. Klänge von der anderen Seite, ein Hybride aus Chanson und Spiritual Freejazz. ko

Pharoah Sanders

Elevation (1973)

Dieses Album verrät den Coltraner in Sanders. ELEVATION erschien 1973 auf dem Impulse-Label, das in den Sechzigern maßgebliche Platten des Giganten veröffentlichte. Sanders spielt hier den Spiritual Jazz Coltranes entschieden weiter ins Freejazzige, hörbar in dem wunderbar zerfransten 18-minütigen Titelstück. Es gibt eine kurze Verneigung vor dem nigerianischen Juju, einen lyrischen Gruß an McCoy Tyner und zwei Tracks, in denen die Band rundere Formen sucht in der Auseinandersetzung mit dem Deep Jazz (mit Congas, Flöte und Violine). fsa

The Pyramids

King Of Kings (1974)

Das fast vergessene Cosmic-Jazz-Meisterstück aus den mittleren 70er-Jahren. Die afroamerikanische Band um den Saxofonisten, Schlagzeuger und Goge-Spieler Idris Ackamoor feierte auf KING OF KINGS in hochperkussiven Tracks die Geschichte Afrikas und der vielen unterschiedlichen regionalen Musikstile. In den Händen der Musiker aus Ohio, die vor ein paar Jahren von einer jungen Generation wiederentdeckt wurden, werden traditionelle Instrumente zu Loop-Generatoren, im Titel „Mogho Naba“(benannt nach dem Titel des Königs der Mossi in Burkina Faso) erfinden die Pyramids eine Art Afrotrance in unglaublichen Call-And-Response-Gesängen. fsa

Hal Singer/Jef Gilson

Soul Of Africa (1974)

Als Hal Singer diese Aufnahmen machte, war er bereits 54 Jahre alt; renommierte Jazz-und Rhythmand-Blues-Bands und Tourneen mit Duke Ellington und Charlie Watts zierten die Vita des amerikanischen Tenor-Saxofonisten. Singer lebte seit ein paar Jahren in Paris und arbeitete mit dem französischen Pianisten und Arrangeur Jef Gilson zusammen. Für das 1974er-Album SOUL OF AFRICA engagierte Hal Singer drei Teenage-Perkussionisten, die er auf einem Trip nach Madagaskar kennengelernt hatte. SOUL OF AFRICA war ein Mehrgenerationenprojekt, das eine für seine Zeit sehr kräftige musikalische Sprache entwickelte. In die mächtigen Bass-Schleifen dreht Hal Singer seine Saxofon-Erzählungen, die voller starker Farben und überraschender Wendungen sind. Die Geburtsschreie der Pariser Afrojazz-Szene 1974. fsa

East New York Ensemble De Music

At The Helm (1974)

„Ahoi! Reise mit uns in Frieden in nahe und ferne Länder, über Sounds und Schwingungen, die so alt sind wie die Zeit. Und im selben Moment so zeitgemäß, wie du sie dir gerade vorstellst.“ Mit diesen Worten lädt Bilal Abdurahman zu den Kreuz-und-quer-Exkursionen durch die Kontinente seiner Imagination ein. Der Sopransaxofonist ist „mehrsprachig“ und mit reichem Vokabular unterwegs, er tänzelt mit einem koreanischen Holzblasinstrument auf den Vibrafon-Wellen, die Ameen Nuraldeen produziert. Brooklyn wird zum Workshop für Jazzund Ethno-Fusion. fsa

Don Cherry

Brown Rice (1976)

Ob das noch Jazz war? Keine Frage damals im Kunstunterricht. Wir hörten BROWN RICE und durften uns zur Musik expressiv mit dem Pinsel austoben. Die Wasserfarbenperformance hat wenig Eindruck bei mir hinterlassen, Don Cherrys funky Groove umso mehr. In den fünf Minuten des Titeltracks schickt er den Afrobeat in eine neue Umlaufb ahn, mit einem schreienden Saxofon und überirdisch schönen Gesängen. Wer möchte, nennt’s noch Jazz, aber der weltbeste Pocket-Trompeter ist weit draußen und flüstert den transzendentalen Groove. fsa

Sabu Martinez /Sahib Shibab

Winds &Skins (1978)

Zusammen haben Sabu Martinez und Sahib Shibab an der halben Weltgeschichte des Jazz mitgeschrieben, ohne dass ihre Namen über mittleren Bekanntheitsgrad hinaus reichten, sie gehörten u.a. den Ensembles von Benny Goodman, Charlie Parker, Miles Davis, und John Coltrane an. Gemeinsam finden sie eine Basis der Kommunikation: Percussion und Sax im Zwiegespräch. Martinez lässt Congas, Bongos, Gongs talken, Shibab antwortet mit Saxofon-Stromstößen. Afrokubanischer Future Funk, sehr seltsam, sehr schön. fsa

Wendell Harrison

Organic Dream (1981)

Der Saxofonist und Klarinettist aus Detroit veranstaltete auf ORGANIC DREAM eine multistilistische Leistungsschau. Es war zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung (1981) ein Kommentar zu einem Genre, das sich scheinbar in Auflösung befand. Spiritual Jazz, R’n’B, Funk, Disco und Easy Listening werden bei Wendell Harrison mit Klarinette und Flöte sowie Streichern aus dem Synthesizer zu einer Art von Musik vereinigt, die entweder ihrer Zeit 15 Jahre hinterherhinkt oder ihr 30 Jahre voraus ist. ko

Pat Metheny

Zero Tolerance For Silence (1994)

Pat Metheny, Fusion-und Latin-Jazz-Gitarrist, Jazz-Verächtern mindestens bekannt durch seine Zusammenarbeit mit David Bowie („This Is Not America“), sehr talentiert, aber auch sehr egal für die Weiterentwicklung des Jazz. Dieser Pat Metheny veröffentlichte 1994 das Album ZERO TOLERANCE FOR SILENCE, 40 Minuten voller Gitarrennoise, atonal immer in Höchstgeschwindigkeit, vom Blues (fast) keine Spur. Ab da hatte auch der Jazz sein METAL MACHINE MUSIC. ko

Joe Maneri /Joe Morris / Mat Maneri

Three Men Walking (1995)

Dieses Album sorgte dafür, dass der New Yorker Joe Maneri (1927-2009) aus der Vergessenheit gerissen wurde. Maneri war in seinen frühen Jahren beeinflusst von der Musik Arnold Schönbergs und Alban Bergs, interessierte sich aber bald für Mikrotonale Komposition, bei der die normale Oktave in 72 Noten aufgeteilt wird. Zusammen mit seinem Sohn Mat an der elektrischen Violine und dem Gitarristen Joe Morris entstand dieses Album mit einer unerhörten Kammermusik, luftig und von hoher lyrischer Qualität. Die bislang letzte nennenswerte Innovation im Jazz. ko

Thurston Moore /Evan Parker /Walter Prati

The Promise (1999)

Nur ein Beispiel für die (musikalische) Fremdgehlust des ehemaligen Sonic-Youth-Gitarristen Thurston Moore. Zusammen mit dem britischen Improvisationsmusiker Evan Parker (Saxofon) und dem Italiener Walter Prati (Bass, live electronics) entstand das Album THE PROMISE. Es war das Versprechen dreier geistesverwandter Musiker, die jeweiligen Instrumente nach ihren ungehörten Möglichkeiten auszukundschaften. Moores perkussive Mikro-Phrasen auf der Gitarre, Parkers abstraktes, zirkulares Saxofonspiel und Pratis elektronische Sounds malen das fiebrig-hypnotische Bild eines Hyper-Jazz. ko

Billy Bang

Vietnam: The Aftermath (2001)

Ende der 1960er-Jahre musste der New Yorker Violinist Billy Bang (1947-2011) Kriegsdienst in Vietnam leisten. Der Vietnamkrieg -auch ein Kapitel afroamerikanischer Geschichte. Für eine Art Selbsttherapie stellte Billy Bang für das Album VIETNAM: THE AFTERMATH ein Ensemble mit anderen Vietnam-Veteranen zusammen, darunter Sonny Fortune, Frank Lowe und Butch Morris. Billy Bang spielt auf der Violine asiatische Melodielinien zu einer postfreejazzigen, aber frei improvisierten Begleitung, es gibt Balladen, die sich am Rande des Jazz-Kontexts bewegen und nur sehr selten freiformale Ausbrüche. Ein solitäres Beispiel vorwärts gedachter Musik aus einer Zeit, in der sich auch der Jazz mehrheitlich in restaurativen Tendenzen gefallen hat. ko

Philip Cohran And The Artistic Heritage Ensemble

Singles (2007)

Lange Zeit selbst von gewöhnlich überinformierten Jazzern übersehen: Der wundervoll durchseelte Jazz des Ex-Sun-Ra-Mitstreiters Phil Cohran und seines Orchesters. Diese Compilation stellt sieben 7-Inch-Tracks vor, die Cohran auf seinem Zulu Label in den Sixties veröffentlichte; Musik, die ihrer Zeit als Afrojazzvorbote davoneilte. Ein genial – Achtung Feindvokabel -komprimiertes Soul-Jazz-Amalgam mit funky Bläsern und versetzten Gospel-Gesängen, das auch auf Jukebox-Länge funktioniert. Mehr noch: Cohran bringt der Avantgarde den Swing bei, die Mbira auf Funk-Betriebswärme und den „African Look“ auf den Punkt. Diese Aufnahmen katapultieren den Schamanen Cohran in das Pantheon des radikalen Jazz. fsa

Leon Thomas

Anthology (1998)

Das inkommensurable Jodeln und Wimmern des Leon Thomas war Ergebnis eines Haushaltsunfalls. Wie wollte er nach den massiven Verletzungen im Mundraum weiter singen? Thomas zermahlte die Worte fortan im Rachen und erfand eine neue Art von Soul für den Jazz. Hier sind Songs aus seinen Alben für das Flying-Dutchman-Label Ende der 60er/Anfang der 70er versammelt, vom Klassiker „The Creator Has A Masterplan“, den er vorher mit Pharoah Sanders aufgenommen hatte, über samtene Blues-Tracks und angeschrägte Showtunes bis hin zu Gospel-Aphrodisiaka wie „Prince Of Peace“. Wiederentdeckt von den Acid-Jazzern der 90er. fsa

Hip Hop

The Last Poets

The Last Poets (1970)

Wenn es diesen einen Fluchtpunkt gibt, auf den alle frühen Spuren der HipHop-Kultur zurückführen, dann ist es wohl dieses begnadete Spoken-Word-Album von Alafia Pudim, Abiodun Oyewole und Umar Bin Hassan. Beeinflusst von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung begannen sie im Harlem der späten 1960er politische Dichtung mit Musik zu verbinden: „Wake Up, Niggers“ oder „Black Wish“ heißen die Stücke, in denen das Trio zu hektischen, drängenden Percussionrhythmen über den Alltag der Schwarzen, über Straßenkriminalität und Diskriminierung rappt und den Aufstand beschwört: „You’ll know it’s revolution cause there won’t be no commercials“ – im prophetischen „When The Revolution Comes“ greifen die Poets sogar Gil Scott-Heron vor, der sich für sein eigenes Debütalbum (ebenfalls 1970) vom Aufnahmekonzept inspirieren ließ. as

Marley Marl

In Control, Volume 1 (1988)

Frag DJ Premier. Frag Q-Tip. Frag Kanye West. Marlon Williams gilt Kollegen und Connaisseuren als Begründer der Sampling-Kunst im modernen Sinn. Vor ihm war Old School, nach ihm alles anders. Das definitive Dokument seiner Lebensleistung ist IN CONTROL. Gleichzeitig lassen sich die zehn Stücke auch als das Album hören, das die legendäre Juice Crew nie aufgenommen hat: Kool G Rap, Big Daddy Kane, Roxanne Shanté, Masta Ace, Craig G, Biz Markie, MC Shan -alle drauf, alle auf dem frühen Zenit ihres Schaffens. Der Höhepunkt ist natürlich „The Symphony“, die Mutter aller MC-Massenaufläufe. Essenziell und erstaunlich gut gealtert. db

Stetsasonic

In Full Gear (1988)

Kein anderes Hip-Hop-Album -nicht vor, während oder nach 1988 -klang wie Stetsasonics zweites Album. Die Doppel-LP ist ein stilistisches Klanglabor außerhalb ihrer Zeit, eine atemberaubende Tour de Force, die sich im Laufe von 17 Tracks -darunter der Sampling-Meilenstein „Talkin‘ All That Jazz“ – an so ziemlich allem abrackert, was dem New Yorker Sechserpack in die Finger geriet: Street Rap und R’n’B, Jazz-, Dancehall-und Reggae-Elemente, Beatboxing, Spoken Word, Beatcutting und Sly-Stone-Samples, Rock-Crossover und Miami Bass -„Music For The Stetfully Insane“. as

King Tee

Act A Fool (1988)

Ice-T soll einmal gesagt haben, King Tee habe The Notorious B.I.G. vorweggenommen. Das ist natürlich heillos übertrieben. Und doch: Wie sein ungleich berühmterer New Yorker Kollege verstand es auch der Mann aus Compton, Kalifornien, die rasende Wut eines Streetkids mit feinem Herrenhumor und der Nonchalance eines alten Playboys zu brechen. Die dazugehörigen Beats kamen meist von DJ Pooh, ebenfalls ein verkannter HipHop-Veteran der Westküste. Auf dem Album ACT A FOOL erinnern sie stark an den damals angesagten Eastcoast-Sound und fügen diesem allerdings nichts Entscheidendes hinzu. Die sonnige Sample-Auswahl der Tracks aber unterstreicht den Trotzdem-gute-Laune-Vibe dieser Platte perfekt. Get Rich Or Die Livin! db

Lord Finesse & DJ Mike Smooth

Funky Technician (1990)

Merkwürdig, wie wenig Beachtung diesem wichtigen Album eigentlich zuteil wurde. Denn kaum ein MC wurde so oft von seinen Kollegen zitiert wie das spätere D.I.T.C.-Oberhaupt Lord Finesse und seine entspannt-erhabenen Angebereien auf FUNKY TECHNICIAN. Die Texte sind gespickt mit komödiantischen Kniffen und pointierten Punchlines, die Lord Finesse in Form von endlosen Bandwurmversen aus dem Handgelenk schüttelt und auf die Beats von DJ Premier, Diamond D, Showbiz und Mike Smooth fallen lässt. Knackige Produktionen, die sich gleichermaßen bei Großtaten aus Funk, Soul, Jazz und Soul bedienen und dieses vergessene Meisterwerk erst so richtig rund machen. jw

Fu-Schnickens

F.U. Don’t Take It Personal (1992)

Holterdipolter. Schönes Wort. Und genau so rumpelig und sperrig kamen die Raps des Trios aus Brooklyn durch die Boxen gedonnert. Hochgeschwindigkeits-HipHop von Wortjongleuren, gespickt mit Kung-Fu-Film-Zitaten und anderen popkulturellen Referenzen. Vielleicht erinnerte das Debüt der drei MCs deshalb an heillos vollgestopfte, knallbunte Comics. Ein Album, das genau so nur am Ende der Golden Era entstehen konnte: experimentell, mutig, ein bisschen abgedreht. Und dennoch zusammengehalten durch die Co-Produktion von A Tribe Called Quest. jw

Artifacts

Between A Rock And A Hard Place (1994)

Für Fans von: Wände anmalen, tonnenweise Gras wegrauchen, über Rap rappen. Also den richtigen Rap. Den echten, schönen, wahren, wie er ja heute gar nicht mehr gemacht wird. Damals aber, als das Gras noch grün und die Ära noch golden war, gab es ihn selbstredend zuhauf und außerdem ausschließlich. Das Debütalbum von Tame One und El Da Sensai aus New Jersey ist ein tolles Beispiel für den Vibe jener Zeit -und gleichzeitig ein kleines Manifest, das noch heute jeder Rucksack-Romantiker auswendig zu kennen hat. db

Jeru The Damaja

The Sun Rises In The East (1994)

Um die Quintessenz der 1994er-Eastcoast-Platten auszuloten, braucht es eigentlich nur zwei: ILLMATIC von Nas und dieses von Jeru. DJ Premier saß hier erstmals abseits von Gang Starr im Produzentensessel und bedachte das junge Raptalent mit den vielleicht seltsamsten, mutigsten, funkysten Brooklyn-Beats dieser Jahre: Samples verstimmter Glocken, schrille Streicher und stotterndes Scratching. Dazu fabuliert Jeru stilsicher über Materialismus („Da Bichez“) und Straßenkampf („You Can’t Stop The Prophet“). as

Organized Konfusion

Stress: The Extinction Agenda (1994)

Konfusion – das kann ja vieles sein: Verwirrtheit, Zerstreuung, der Zustand absoluter Unklarheit. STRESS: THE EX-TINCTION AGENDA ist voll von genau solchen Eindrücken und Erlebnissen. Pharoahe Monch und Prince Po frönen ihrer Passion für Wortspiele und schöne Sätze, berichten von Ganggewalt und all dem Mist, der sie umgab, und liefern so eine durchdachte Gegenthese zum schillernden Charts-Rap. HipHop-Lyricism, wie er im Buche steht. Und die Produzenten Buckwild und Rockwilder spielen lange vor ihren großen Karrieren auf der Klaviatur des samplebasierten HipHop: mal düsterer Downtempo-Sound, mal melancholisch und von abgedrehtem Jazz beeinflusst. jw

E.S.G.

Sailin‘ Da South (1995)

Der Houston-Sound von DJ Screw ist angesagt wie nie zuvor: Über Drake und A$AP Rocky hat das Spiel mit der lokaltypischen Langsamkeit sogar Eingang in die Stilpalette der Formatradio-Fließbandarbeiter gefunden. Für E. S.G. und die anderen Mitglieder der originalen Screwed Up Click kommt das ein wenig spät. Echte Rap-Fans aber halten ihren Nachlass in höchsten Ehren. SAILIN‘ DA SOUTH ist das wohl beste Album jener Ära – gerade weil es mit „Swangin‘ And Bangin'“ einen echten Singlehit aufweist. db

Heltah Skeltah

Nocturnal (1996)

Alteingesessenen HipHop-Heads ist vermutlich eher die Boot Camp Clik, den jüngeren Sean Price ein Begriff als Rock und Ruck a.k.a. Heltah Skeltah. Kennen sollten aber beide vor allem das gemeinsame Debütalbum der beiden BCC-Mitglieder, das durch harte, unverhohlene Gangsta-Raps auf zurückgenommenen, geschichteten Beat-Landschaften glänzt. Auf der einen Seite ist da Rucks (mittlerweile eben Sean Price) überragende Technik, auf der anderen Rocks erdrückend martialische Stimme. Zusammen: Eastcoast Rap at its best. al

Capone-N-Noreaga

The War Report (1997)

Alsder zurückgelehnte Sound der Westküste gerade schwer angesagt war, kamen plötzlich CNN mit dem knallharten BoomBap der New Yorker Schule um die Ecke. Auf dem Höhepunkt des East-West-Beefs antwortete „L.A. L.A.“ auf einen New-York-Diss von Tha Dogg Pound, „T.O.N.Y. (Top Of New York)“ und „Illegal Life“ feierten das Real Life der Straße. Mit weiteren Klassikern wie „Neva Die Alone“,“Closer“ und „Live On, Live Long“ belebte das Debüt der Queensbridge-Legenden den Eastcoast-Rap neu. Viel brauchte es dafür gar nicht mal. Nur ein paar knisternde Samples, magenmassierende Basslines und Kickdrums, die einem das Trommelfell ausleiern. Und natürlich zwei hungrige, junge MCs wie Capone und Noreaga. jw

The Lady Of Rage

Necessary Roughness (1997)

Viele kleine Geschichten ranken sich um das Debütalbum der wütenden Wucht aus Virginia. Die vom Wunderkind etwa, das nach dem frühen Hype im Fahrwasser von Dr. Dre einen künstlerischen Neuanfang wagt. Die von verfeindeten Lagern, die trotz Ost-Westküsten-Rivalität friedlich zusammenarbeiten. Und natürlich die von der starken Frau im Reich des dubiosen Über-Machos Suge Knight. Vor allem aber ist NECESSARY ROUGHNESS eine richtig starke Rap-Platte, kohärent und abwechslungsreich, mit harten Flows, butterweichen Beats und einer Protagonistin, die entgegen aller Pauschalskepsis ein Album auch im Alleingang zu tragen wusste. db

Company Flow

Funcrusher Plus (1997)

FUNCRUSHER PLUS ist so anstrengend wie die Stadt, die es hervorgebracht hat. Laut, dreckig, dissonant, latent aggressiv und durch und durch liebenswert. Es ist außerdem das definierende Album jener kurzen, aber bis heute nachwirkenden Ära des New Yorker Alternative-Rap rund um den von James Murdoch finanzierten Riesen-Indie Rawkus Records. Mit ihren kaputten Drums und komplexen Reimen gaben Company Flow die radikalste denkbare Antwort auf den schampusseligen Schmuserap von Puff Daddy & Co. Das eigentlich Erstaunliche an FUNCRUSHER PLUS aber ist: Auch heute, da diese Feindbilder längst verblichen sind, klingt das Album so frisch und dringlich, als hätten es erst gestern drei Kids aus Flatbush in einer (miesen) Tageslaune ausgespuckt. Very oldschool. Und vor allem: independent as fuck! db

Feinkost Paranoia

Bio°Feedback (1999)

Unter all den netten Deutschrappern der Neunziger galten die aus München stets als noch ein bisschen netter. Feinkost Paranoia allerdings brachen vehement mit diesem Paradigma. Sie meldeten sich ab aus der Arbeitsgruppe „Witziges Wortspiel“ und rappten angriffslustig und assoziativ über eigentümlich elektrifizierte, dystopisch düstere Beats. Lebte das Debüt DORN IM DRITTEN AUGE noch weitgehend vom Tabubruch („Süße Maus“), ließ das lose Kollektiv aus dem südlichen Stadtteil Neuperlach seiner Kreativität auf dem Nachfolger endgültig freien Lauf. Asphalt-Avantgarde, Oida! db

Defari

Focused Daily (1999)

Manchmal ist ein Album größer als der Künstler, der es aufgenommen hat. Wie im Falle von FOCUSED DAILY von Defari. Die Beats -hauptsächlich von The Alchemist und Evidence produziert – pumpen im typischen Westcoast-Style, das Scratching ist meisterhaft. Trocken flowt Defari über die Oldschool-Banger und ist dabei weder ein überragender Techniker noch ein ausgezeichneter Reimvirtuose. Nicht viele aber konnten dem studierten Soziologen und Ex-Highschool-Lehrer damals in Sachen klarer Aussprache das Wasser reichen. Im Stück „Never Lose Touch“ dankt der „Hip Hop Scholar“ aus Kalifornien sogar seiner Mutter. Trotz vermeintlichem Gelehrtenmuff möchte man beim Hören nichts lieber tun als seinen Arm auf das heruntergekurbelte Fenster seines Cabrios legen und es im Schritttempo der untergehenden Sonne entgegensteuern. Auf FOCUSED DAILY sind Attitüde und Atmosphäre Trumpf. Größer war Defari nie wieder. al

Afu-Ra

Body Of The Life Force (2000)

Sechs Jahre nach seinen ersten Zeilen auf dem Debüt von Jeru The Damaja, nach unzähligen Gastbeiträgen und 12-Inch-Singles, wirft der New Yorker zur Jahrtausendwende die erste eigene Platte in die begierigen Hände der Underground-Rap-Szene. Es ist das frühe Meisterwerk eines brillanten MCs: eine grandiose Mischung aus cleverem Sampling (von DJ Premier, DJ Muggs und Da Beatminerz), erlesenen Gästen (M.O.P., Masta Killa und GZA vom Wu-Tang Clan) und nachdenklichen, aber optimistischen Texten: „Rough and tough“ – er ist beides zugleich, der „lyrical warrior“. as

Devin The Dude

To Tha X-Treme (2004)

Kiffen kann er, der Dude. Und Rappen auch, auf seine ureigene Weise. Der sirupsüße, melodische Flow des texanischen Charmebolzens entlarvt jede konventionelle Vorstellung von Raum und Zeit als Illusion. Wer sich hier nicht entspannt, dem ist auch im Yoga-Camp auf tibetischer Hochebene nicht beizukommen. Unter der Obhut des legendären Rap-Impresarios J. Prince und Kanye Wests heutigem Co-Produzenten Mike Dean führt Devin die Kunst der vernebelten Verschleppung hier zur Meisterschaft. Der heimliche Klassiker des originalen Krautreporters. db

Creutzfeld &Jakob

Gottes Werk und Creutzfelds Beitrag (2000)

Die beiden Herren Flipstar und Lakman, aus denen sich Creutzfeld &Jakob zusammensetzt, liefern gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends mit GOTTES WERK UND CREUTZFELDS BEITRAG ein Debüt ab, das, sich an US-Vorbildern orientierend, atmosphärisch enorm düster klang, dabei aber trotzdem authentisch blieb. Das erste Release auf Put Da Needle To Da Records bildete die Grundlage für eine ganze Generation von Rappern, die ihren Ursprung im Ruhrpott hatten. Unvergessen bei den eingefleischten Deutschrap-Fans ist das grandiose „Fehdehandschuh“ mit einem jungen (King) Kool Savas. Lakman macht solo immer noch gute Musik. Flipstar ist jetzt Chirurg. Kein Scherz. al

Beanie Sigel

The B. Coming (2005)

Beanie Sigel ist ein Mann der einfachen, klaren Worte. Zungenakrobatik und sonstige Zirkusnummern sucht man bei ihm vergeblich. Kein anderer bringt die Dinge so auf den Punkt. Die Dinge, das heißt hier konkret: das Leben am Straßeneck und was es so mit sich bringt. Diesem Thema widmete sich der „Broad Street Bully“ aus der Perspektive des leidgestählten, altersweisen Veterans. Erstmals öffnete er seinen patentierten Getto-Blues auch Einflüssen außerhalb des Dünkels um Labelboss Jay-Z. Ein unterschätztes Highlight aus dem Spätwerk eines unterschätzten Rappers. db

Tua

Nacht (2005)

Tua genießt eine besondere Stellung in der deutschen Raplandschaft. Schon sein Debüt, im Rahmen der Royal-Bunker-Streetoffensive für einen Zehner auf den Markt geworfen, war voll von mutigen Ansätzen. Lange vor anderen Deutschrappern versammelt der damals gerade Volljährige Songs, die sich weder vor orientalischen Samples noch vor elektronischen Elementen fürchten. Es ist Musik für die letzten Stunden vorm Morgengrauen. Und selber produziert hat er die Platte auch noch. al

Evidence

The Weatherman LP (2007)

Während seine Alben mit den Dilated Peoples und sein späteres Solo-Album CATS &DOGS passable Chartspositionen erreichten, erhielt THE WEATHERMAN LP nie die Aufmerksamkeit, die es verdiente. Über die Kopfnicker-Beats von Ausnahmeproduzenten wie The Alchemist, Sid Roams und Crewkollege Babu, die von Samples bis zu bretternden Synthesizern so einiges abdecken, macht es sich „Mr. Slow Flow“ auf THE WEATHERMAN LP zur Aufgabe, Inhalt über Technik zu stellen. Seine Songs sind immer nur so gut wie die Pointen. al

JAW

Täter-Opfer-Ausgleich (2010)

Aufenthalte in der Psychiatrie, erfolglose Versuche einer Therapie -all das hat JAW auf seinem zweiten Album TÄTER-OPFER-AUSGLEICH verarbeitet. Ein ebenso geisteskrankes wie durchdachtes, letzten Endes schizophrenes Stück Musik zwischen selbstanalytischen Introspektionen und gänsehautbescherendem Storytelling. Gleichzeitig ist TÄTER-OPFER-AUSGLEICH aber auch die bitterböse und zynische Abrechnung mit einer oberflächlichen Gesellschaft, die JAW zu dem gemacht hat, der er heute ist. Die dichten, atmosphärischen, immer wieder mit Filmzitaten verschnittenen Beats der Tracks machen den musikgewordenen Aufenthalt in der Klapsmühle perfekt. Ein misanthropisches Meisterwerk. jw

Captain Murphy

Duality (2012)

Captain Murphy ist das Rapper-Alias von Flying Lotus. Auch am Mikrofon findet der Beat-Virtuose aus Los Angeles den Groove, wo ihn andere nicht mal zu suchen wagen -mal in den Abgründen der menschlichen Seele, mal an einem gleißend hellen Ort jenseits unseres Sonnensystems. Dazu passend bebilderte er die gut 30 Minuten dieses Mixtape-Albums mit einer verballerten Video-Collage, irgendwo zwischen Stoner-Paranoia und Gamer-ADHS. Dem Irrsinn sein Vater. db

Vic Mensa

Innanetape (2013)

Internet changed the HipHop-Game. Umso wichtiger: junge Rapper wie der Chicagoer Vic Mensa, die Geschwindigkeit und Eklektizismus des INNANET-Zeitalters in klugen, aufgekratzten Rhymes verpacken können. Spielerisch sind die Raps, frei in Form und Themen – irgendwo zwischen Tumblr-Blog und Großstadt-Sozialstudie eines Computerkids. Ausgelassene Sommerwärme („Orange Soda“) trifft auf die Lokalpolitik der Windy City („Time Is Money“) trifft auf Popkultur-Namedropping („Tweakin“). So selbstverständlich fließen Kanye West, MDMA, Martha Stewart, Andy Warhol und MTV im irren Upbeat-Flow zusammen, dass es verdammt nach Zukunft riecht. as

Post Rock

Texte von Ivo Ligeti

This Heat

This Heat (1979)

This Heat hätten mit ihrem Debüt 15 Jahre warten können – und wären ihrer Zeit immer noch voraus gewesen. Mit der Vermählung von Prog und Punk rissen die drei Multiinstrumentalisten aus London Abgründe ungeahnten Ausmaßes auf: Was eine verstimmte Gitarre, ein wummernder Bass und ein nervöses Drumset hier zustande bringen, klingt teils nach klassischer Avantgarde, teils nach modernem Drum’n’Bass -man höre sich nur den revolutionären, sechsminütigen „24 Track Loop“ an. So vorausschauend waren damals vielleicht nur Kraftwerk. Nach ausgebliebenem Erfolg war 1982 Schluss für das Trio.

Deux Filles

Silence &Wisdom (1982)

Die Story von Deux Filles könnte trauriger nicht sein: Die Französinnen Gemini Forque und Claudine Coule lernen sich im Pilgerort Lourdes kennen und versuchen, durch die gemeinsame Liebe zur Musik den Tod ihrer Eltern zu verarbeiten, ehe sie nach zwei fantastischen Alben in Nordafrika wie vom Erdboden verschluckt verschwinden. Entführung? Mord? Beides nicht, sondern nur ein bisschen Flunkerei: In Wirklichkeit stecken hinter dem mysteriösen Duo zwei gelangweilte Ex-Mitglieder von The The, die sich Drag-Klamotten anzogen und mal eben zwei der futuristischsten Alben der 80er-Jahre aufnahmen.

Lewis

L’Amour (1983)

Im Jahr 1983 fuhr ein Herr namens Randall Wulff in einem weißen Mercedes vor den Toren des Music Lab Studios in L. A. vor. Auf dem Beifahrersitz eine makellos schöne Freundin. Wulff spielte seinen ätherischen und tieftraurigen Ambient-Synthie-Folk ein, ließ das Coverfoto schießen -und verschwand. Bis heute ist L’AMOUR das einzige Zeugnis dieses Mysteriums. Auf einem Flohmarkt irgendwo in Kanada ist jüngst einem Sammler ein Exemplar in die Hände geraten, bei Lights In The Attic erscheint dieser Tage die überfällige Reissue. Man will gar nicht daran denken, welche Schätze in den Grabbelkisten dieser Welt sonst noch auf ihre Entdeckung warten.

Savage Republic

Ceremonial (1985)

Das Einzige, was diese L. A.-Combo mit ihren Artgenossen gemein hatte, war die verwaschen-stumpfe und zugegeben mittlerweile angestaubte Produktion. Davon abgesehen dachte das Sextett immer um die entscheidenden Ecken, die sie mal ins No-Wave-New-York der frühen Achtziger führten, mal zu traditioneller afrikanischer Perkussion. Gesungen wird nicht, dafür auf Töpfe geschlagen und in Ambient-Seen gebadet. Mit dem richtigen Produzenten hätte ihr zweites Album fantastisch werden können, so ist es „nur“: sehr gut.

Seefeel

Quique (1993)

Dass Seefeel kurz nach ihrem Debüt QUIQUE bei Warp unter Vertrag kamen, verwundert nur auf den ersten Blick: Eigentlich machten die vier Londoner genau das Gleiche wie ihre Labelkollegen, nur eben mit Gitarren in der Hand. QUIQUE ist der Entwurf einer elektronischen Musik ohne Synthesizer und Drum Machines, der bis heute Gültigkeit besitzt. Zu den zahlreichen Kopisten zählen auch die mittlerweile wiedervereinigten Seefeel selbst -immer noch auf Warp, aber ohne den Mut von damals.

Labradford

Prazision LP (1993)

PRAZISION LP ist nicht nur das erste Album dieses Drone-Trios aus Virginia, sondern auch der erste Tonträger, der auf Kranky Records erschienen ist, der späteren Heimat von Deerhunter und Tim Hecker. Eine Stunde Ambient, die klingt, als stünde man bei einer Probe von My Bloody Valentine im Nebenzimmer. Besonders schön wird’s, wenn sich das Stimmchen von Mark Nelson unter den Gitarrenschichten zur Oberfläche bohrt.

Disco Inferno

D. I. Go Pop (1994)

Unter den Bands, die This Heat sein wollten, waren Disco Inferno die talentierteste: In die Ruhe vor dem Britpop-Sturm warf das Trio aus Essex diese halbe Stunde Paranoia, die von Pop so weit entfernt ist wie die Erde vom Mars. Nach einiger Zeit als Joy-Division-Kopisten machten Disco Inferno den Sample-Fleischwolf zum gleichberechtigten Bandmitglied, garnierten zerfledderte Gitarren mit Field Recordings und Ian Crauses nervös dahingerotztem Anti-Gesang. Ob „In Sharky Water“ schwimmend, oder „Footprints In The Snow“ hinterlassend – vor der manisch-depressiven Stimmung gab’s kein Entrinnen.

Bohren & Der Club Of Gore

Midnight Radio (1995)

Die Verweigerung, sich weiterzuentwickeln, muss nicht zwangsläufig von Faulheit zeugen. Manchmal ist sie vielmehr der Verpflichtung geschuldet, eine bestimmte Idee perfektionieren zu wollen. Bohren & Der Club Of Gore sind im positivsten Sinne solch ein Fall. Ihr Ideal ist die völlige Entschleunigung der Musik, die Reduktion auf Zeitlupen-Momente zwischen Jazz und Ambient. So steht MIDNIGHT RADIO, das zweite und mit fast zweieinhalb Stunden Laufzeit längste Album der Mülheimer, stellvertretend für alle anderen.

Storm &Stress

Storm &Stress (1997)

Wer glaubt, die New Yorker Experimentalrocker Battles seien schon verrückt genug, sollte sich ruhig die alte Band von Gitarrist Ian Williams zu Gemüte führen: Storm & Stress spielen improvisierten Avant-Jazz der ganz unverdaulichen Sorte -der zur Krönung auch noch von Steve Albini produziert wurde. Erst nach und nach offenbart sich zwischen scheinbar sinnlosen Terror-Drums und unberechenbar keifenden Gitarren die wahre Schönheit dieser Platte. Wem das zu extrem ist, dem sei das Frühwerk von Williams‘ dritter Band Don Caballero ans Herz gelegt, beispielsweise FOR RESPECT von 1993. Oder eben die Battles, die gehen immer.

Gastr del Sol

Camoufleur (1998)

In irgendeiner Form musste Tausendsassa Jim O’Rourke (Produzent von u.v.a. Sonic Youth, Wilco, Stereolab) in dieser Liste ja auftauchen, jetzt tut er es als Teil von Gastr del Sol. Wer verstehen will, wie O’Rourke und seine Kollegen David Grubbs (Codeine) und Markus Popp (Oval) hier vorgehen, höre sich nur den Schlussdialog des Openers „The Seasons Reverse“ an: Einer der drei versucht, eine Gruppe Kinder zu überreden, sie beim Böllern aufnehmen zu dürfen -und stößt dabei auf Unverständnis. Dass es die Böller letztendlich nicht aufs Album geschafft haben, ist halb so wild: Von Soundscapes bis Fiedel-Folk klappt hier alles.

Tortoise &The Ex

In The Fishtank 5 (EP, 1999)

Die IN THE FISHTANK-Reihe des niederländischen Plattenvertriebs Konkurrent vereinigt zwei (seltener: drei) verschiedene Künstler, die sich gemeinsam auf EP-Länge austoben dürfen. Von Sonic Youth bis hin zu Fennesz hat vieles von Rang und Namen mitgemacht, am interessantesten dürfte aber #5 sein: Der neunköpfige Zusammenschluss aus The Ex und Tortoise prügelt sich durch ein Dickicht aus Punk, Postrock und elektronischen Friemeleien, das die Jazz-Einflüsse beider Bands fast völlig außen vor lässt.

Rachel’s

The Sea And The Bells (1996)

Neben Montreal und Chicago ist Louisville, Kentucky der dritte bedeutsame Ort auf der Landkarte des Postrock. Aus der Hardcore-Ursuppe, die hier Anfang der Neunziger köchelte, stachen Slint und Rodan heraus und spielten eine depressive Variante dessen, was man heute Post-und Math-Rock nennt. June Of 44, Shipping News und Dutzende andere folgten. teilen sich Mitglieder mit vielen dieser Bands, verfolgen aber einen anderen Ansatz: Die Punkwurzeln des Postrock zu kappen und ihn als moderne klassische Musik zu verstehen.

The For Carnation

The For Carnation (2000)

Wer wissen möchte, was Slint eigentlich nach SPIDERLAND so getrieben haben, hier eine kurze Zusammenfassung: Gitarrist David Pajo wurde zum Mitglied von Billy Corgans Zwan befördert, spielte allein als Aerial M und zusammen mit Tortoise tolle Alben ein. Drummer Britt Walford war kurz mit den Breeders und lange gar nicht unterwegs, Bassist Todd Brashear bekam auf einigen Will-Oldham-Platten Credits fürs „Extra Special Singing“. Und Sänger Brian McMahan? Nahm mit (später: als) The For Carnation zwei Platten auf, von denen diese (die zweite) mindestens genauso gut ist wie SPIDER-LAND. Ohne jugendliche Wut, aber mit Kim Deal als Background-Chanteuse.

Jackie-O Motherfucker

Fig. 5 (2000)

Was macht man in Oregon, wenn man Langeweile hat? Ganz recht: Man gibt sich einen merkwürdigen Bandnamen und spielt merkwürdige Musik. Bei Tom Greenwood und seinen über 40 verschlissenen Mitstreitern wurde es zeitweise sogar so krude, dass Sonic Youth sich als Fans outeten und ein Album des Kollektivs auf Thurston Moores Label Ecstatic Peace erschien. Passt irgendwie nicht, weil Greenwood sich dem klassischen Folk so verpflichtet fühlt wie kein anderer Künstler in dieser Auswahl. Andererseits: Genug grässliche Geräusche gibt’s in seinem Schaffen trotzdem.

Unwound

Leaves Turn Inside You (2001)

Das Beste, was dieses gleichermaßen von Fugazi wie von Can inspirierte DIY-Trio aus Washington je getan hat, war, sich am 1. April aufzulösen. Es sollte eine Weile dauern, bis die Welt gemerkt hat, dass es sich nicht um einen Scherz handelte -und noch länger, ehe sie das letzte Unwound-Album LEAVES TURN INSIDE YOU als das würdigte, was es ist: nämlich das Zweitbeste, was diese Band je getan hat – ein Fuzz-getränkter Mischmasch aus Punk, Kraut und Post-Hardcore, der seine Liebe zu John Cage genauso wenig leugnet wie die Einflüsse von Miles Davis. Produziert wurde LEAVES TURN INSIDE YOU, wie es sich für DIY gehört, von der Band selbst und Phil EK (Fleet Foxes, Built To Spill).

Set Fire To Flames

Sings Reign Rebuilder (2001)

Der Bandname klingt nach einer pickeligen Metalcore-Kapelle, Songtitel wie „Wild Dogs Of The Thunderbolt /’They Cannot Lock Me Up… I Am Eternally Free…‘ (From Lips Of Lying Dying Wonder Body #2)“ lassen Proggewichse der schlimmsten Sorte vermuten. Beides weit gefehlt: Das Kollektiv aus Montreal, verwandt mit Godspeed You! Black Emperor, geht mit dem Hörer in einer Stadt der Hoffnungslosigkeit Gassi, in der man betrübte Leute über Gott und die Welt reden hört, von Noise-Attacken umgemäht wird und am Ende doch die himmlischen Geigen-Crescendi siegen.

Stars Of The Lid

The Tired Sounds Of Stars Of The Lid (2001)

Das müde Rauschen des Duos aus Austin, Texas, ist die Vollendung des Postrock: Hier wird mit Rock-Mitteln keine Musik gemacht, die Rock ignoriert, sondern eine, die nicht mehr weiß, was Rock ist. Da darf ein „Lovesong“ gerne mal aus 22 Minuten Unter-Wasser-Feedback bestehen. Wer sich diese zwei Stunden Ambient am Stück anhört, ist danach mindestens einen Monat lang ein entspannter Mensch. Versprochen!

Shalabi Effect

The Trial Of St. Orange (2002)

Die allererste Veröffentlichung von Sam Shalabi und seinen Mannen sollte eigentlich ein Split-Album mit Godspeed You! Black Emperor sein, zu dem es jedoch nie gekommen ist. Diese Paarung hätte allerdings auch nicht gepasst: Wird bei GY!BE jedes Geräusch, jede Bewegung einer Stimmung untergeordnet -sei es Depression oder Euphorie, steht bei Sam Shalabi jeder Ton für sich. Platz für große Gefühle ist hier keiner vorhanden, dafür gibt es allerhand Überraschungen auf dem Album: Nach ein paar gemächlich krautenden Tracks wird ohne Vorwarnung der Drum’n’Bass-Knüppel ausgepackt. Sorry fürs Spoilern.

Bark Psychosis

///Codename: Dustsucker (2004)

Wer sich als Napalm-Death-C o ve r b a n d gründet, hat schlechte Karten, im „Musik-Biz“ etwas zu erreichen, geschweige denn ein eigenes Genre zu begründen. Graham Suttons Projekt Bark Psychosis schaffte es dennoch: In einer Rezension des britischen Musikjournalisten Simon Reynolds („Retromania“) zum 1994er-Erstling HEX, der Klassiker unter den Klassikern des Genres, fiel erstmals der Begriff Postrock. Das zehn Jahre später erschienene zweite Album spielt auf die gleiche betörende Weise mit Stille, wie es seit Talk Talk keiner mehr getan hat. Deren Ex-Drummer Lee Harris sitzt hier übrigens am Schlagzeug und trägt seinen pochenden Kraut-Jazz-Rhythmus noch eindringlicher vor als bei seiner einstigen Hauptband.

Diverse

Song Of The Silent Land (2004)

Zentrum der Do-It-Yourself-Szene des kanadischen Postrock war, ist und wird sein: Constellation Records. Zufluchtsort für musikalische Querköpfe, letzte Bastion der kommerziellen Totalverweigerung und vielleicht das tollste Label der Welt. Die Bandliste des zweiten Constellation-Samplers liest sich wie die eines Best-of-Postrock-Mixtapes: Godspeed You! Black Emperor, Do Make Say Think, Black Ox Orkestar, Silver Mt. Zion, 1-Speed Bike, Fly Pan Am sind unter anderem vertreten. 13 der 14 Stücke waren bis dato unveröffentlicht. Nach zehn Jahren ist die Hoffnung auf Volume drei noch nicht ganz erloschen.

Cul De Sac &Damo Suzuki

Abhayamudra (2004)

Wie es die Legende will, hat ein aufmerksamer Fan des ehemaligen Can-Sängers Damo Suzuki seinem Helden nach einem Konzert ein Exemplar des zweiten Cul-De-Sac-Albums I DON’T WANT TO GO TO BED aus dem Jahr 1995 in die Hand gedrückt. Damo Suzuki nahm die Platte mit nach Hause und stellte sie ungehört ins Regal. Einige Monate später, beim Putzen, kam das gute Stück doch noch zum Einsatz, und Suzuki schrieb der Band noch am selben Tag, ob sie nicht gemeinsam auf Tournee gehen wollten. Einzige Bedingung: Keine Proben. AB-HAYAMUDRA fasst dieses waghalsige Projekt auf zwei CDs zusammen und klingt genau, wie man es sich vorstellt: Als hätten sich Can nie aufgelöst und wären immer grandios geblieben.

Pelican &Mono

Pelican /Mono (EP, 2005)

Nicht nur für Nerds: Eine Split-EP zweier Bands, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch so nah beieinander liegen: Pelican, amerikanische Post-Metaller aus Illinois mit Sludge-Ansätzen, und Mono, eine Horde verrückter Japaner aus Tokio, sind privat gut befreundet. Jedoch fanden Pelican den Weg zu ihrem Klangbild über Punk, Core und Co., während sich Mono eher klassischer Musik verpflichtet fühlen. PELICAN / MONO vereint beide Entwürfe in friedlicher Koexistenz. Die sechs verschiedenfarbigen Vinyl-Varianten sind leider vergriffen, aber wir haben ja YouTube.

Alcest

Le Secret (EP, Re-recorded Version 2011)

Sowieso zu empfehlen: Der Franzose Stéphane Paut aka Neige aka Alcest, der in seiner Kindheit laut eigener Aussage oft Kontakt zu einer Fantasiewelt aufnahm und mit seiner Musik eine Brücke dorthin zurück bauen will -für sich selbst wie für den Hörer. Besonders gut klappt das auf der zweiten Variante der geheimnisvollen EP „Le Secret“: Die beiden knapp viertelstündigen Stücke stammen aus einer Zeit, in der sich Neige den Black Metal vorknöpfte und wurden neu aufgenommen, als der Dream Pop längst sein neues Zuhause war. Die Originale sind mit drauf, leiden allerdings unter der fürchterlichen Aufnahmequalität.

Ensemble Pearl

Ensemble Pearl (2013)

Das Ensemble Pearl setzt sich aus Mitgliedern der Drone-Götter Sunn O))) und der japanischen Metal-Experimentalisten von Boris zusammen -umso überraschender, dass das Album die Kräfte beider Bands nicht bündelt, sondern wesentlich zarter daherkommt als gewohnt. Gelernt haben die beiden Parteien anscheinend vom 2006er-Gemeinschaftsalbum ALTAR, auf dem sich das Grölen von Sunn O))) und die lieblichen Shoegaze-Gesänge von Boris im Weg standen, von Vocodern und Auto-Tune ganz zu schweigen. Hier wird einfach gar nicht gesungen, sondern nur fieser Krach gemacht. Finden wir: schön.

Saltland

I Thought It Was Us But It Was All Of Us (2013)

Das einzige Schlechte am Solodebütalbum von Sängerin und Cellistin Rebecca Foon: Es kam viel zu spät. 17 Jahre in Diensten anderer (von Esmerine über British Sea Power und Set Fire To Flames bis hin zu Patti Smith) waren andererseits vielleicht nötig für so ein reifes, überlegtes Album. Die Cello-Loops stets ins Zentrum gerückt, bewegen sich die acht Stücke oft nah am Ambient, fallen jedoch nie in sich zusammen. Gast-„Stars“ wie Richard Reed Parry und Sarah Neufeld von Arcade Fire und Laurel Sprengelmeyer alias Little Scream wären bei so viel zerbrechlicher Schönheit gar nicht nötig gewesen.

Soul

Dee Dee, Barry & The Movements

Soul Hour (1968)

Mitte der 60er-Jahre machte die Kunde der aufregenden neuen schwarzen Musik auch in Deutschland die Runde. „This Is Soul!“, erklärte Klaus Doldinger unter dem Pseudonym Paul Nero. Jazzorganist Ingfried Hoffmann zeigte als Memphis Black auf zwei LPs, wie viel Stax im Schwarzwald steckt. Das beste deutsche Soul-Album wurde auf dem Jazzlabel MPS veröffentlicht: Unterstützt von Profis wie Barney Wilen und Joël Vandroogenbroeck, swingen sich die Amerikanerin Dee Dee McNeil und der Südafrikaner Barry Window mit wilder Entschlossenheit durch ein Set aus Soulhits und Modjazz. Höhepunkt ist die Breakbeat-Version von „Get Out Of My Life Woman“, die Solomon Burke und Bob Azzam noch übertrifft. cw

Syl Johnson

Dresses Too Short (1968)

Bei Syl Johnson ist das etwas schwierig: Gemeinhin wird das 1970 erschienene IS IT BECAUSE I’M BLACK? (1970) als sein Referenzalbum angesehen. Bis sich nach dem Wechsel zu Hi Records (Al Green, Ann Peebles) so etwas wie kommerzieller Erfolg einstellte, dauerte es weitere zwei Jahre. Und trotz Hits wie „Take Me To The River“: Heute ist Johnson eher eine Fußnote des Genres. Dabei ist sein Debüt ein durchaus beachtenswertes Album, das die Herkunft Johnsons -er lebte in Chicago, wurde aber in Mississippi geboren -nie verhehlt und mit einigen Songs ausgestattet ist, die später in der einschlägigen Szene Referenzmaterial wurden, etwa das von Kanye West, Public Enemy und Wu-Tang Clan gesampelte „Different Strokes“ mit seinen an James Brown erinnernden verschwitzten Boogaloo-Stöhnern oder „I Can Take Care Of Business“, eine wunderbare, seelenvoll durchgeblasene Soul-Ballade. jov

Benny Gordon And The Soul Brothers

Tighten Up (1968)

„Tighten Up“ von Archie Bell &The Drells ist einer der Meilensteine auf dem Weg des Soul zum Funk. Noch im Erscheinungsjahr nahm sich der von South Carolina nach New York übersiedelte Benny Gordon den absolut unwiderstehlichen Song vor: Von den zahllosen Coverversionen ist es die definitive, der entspannte Backbeat des Originals schraubt sich hier mit supertighten Bläsersätzen in schwindelerregende Raserei -einer der ultimativen HipHop-Breaks. cw

Marlena Shaw

The Spice Of Life (1969)

„California Soul“ war der Radiohit auf dem zweiten Album von Marlena Shaw, ein zweieinhalbminütiges Soulpopkonfekt, von Richard Evans und Charles Stepney mit dem unverwechselbaren Cadet-Wall-Of-Sound ausgestattet. Der Klassiker auf dem Album ist aber der Eröffnungstrack: „Woman Of The Ghetto“ schlängelt sich mit seiner hypnotischen Bassline und Harfentupfern durch sechs Minuten, während Shaw im Stil von Aretha Franklin Respekt für die schwarze Frau einfordert. Die Scat-Liveversion des Songs (auf LIVE IN MONTREUX) bildet die Basis für „Remember Me“ von Blue Boy. cw

Billy Paul

360 Degrees Of Billy Paul (1972)

Das vierte Album von Billy Paul bevorratet seinen größten Erfolg: „Me And Mrs. Jones“ war drei Wochen lang Nummer eins der amerikanischen Popcharts. Heute dürften die meisten freilich eher die Version von Amy Winehouse kennen. Doch auch die Beschäftigung mit dem ganzen Album lohnt: Es ist das zweite, das Paul für das Gamble/Huff-Label Philadelphia International aufnahm und eines, das den sogenannten Philly Soul gut erklärt, aber stets sehr eigen bleibt: Auf einem Beat von Earl Young (später mit den Trammps maßgeblich verantwortlich für das „Disco Inferno“) läuft nicht nur Pauls mächtige, aber stets variable Stimme, sondern auch ein beachtlicher Instrumentenpark. Dabei arbeitet Paul improvisatorischer als die meisten seiner Labelkollegen, nachzuhören in seiner Sechsminutenversion von Elton Johns „Your Song“. jov

Alice Clark

Alice Clark (1972)

Der einzige Longplayer von Alice Clark ist einer der großen verlorenen Klassiker, ein Album von solcher Tiefe und Sinnlichkeit, wie man es Aretha Franklin einmal in ihrer Karriere gewünscht hätte. Vom ersten bis zum letzten Ton stimmt hier alles: Jeder Song ist ein Bringer, und Clark singt sich die -eben! – Seele aus dem Leib, mit so viel eindringlichem Feeling und Unmittelbarkeit, dass einem der Atem stockt. „Never Did I Stop Loving You“ ist der Hit für die Dancefloors, aber der Höhepunkt ist das jazzig-rauchige „Charms Of The Arms Of My Love“. Was für eine Stimme! Warum ALICE CLARK bei Veröffentlichung sank wie ein Stein und man nie wieder von der Sängerin gehört hat, ist eines der großen Mysterien der Popmusik. cw

Eddie Kendricks

People … Hold On (1972)

Interessant ist diese Platte vor allem, weil sie einiges vorwegnahm: So wird „Girl You Need A Change Of Mind“ mit seinen siebeneinhalb Minuten Laufzeit heute als einer der ersten Disco-Tracks überhaupt angesehen. Dabei hatte es für Kendricks so gut zunächst gar nicht ausgesehen: 1970 hatte er nach Jahren des Streits die Temptations verlassen, sein ein Jahr später erschienenes Solodebüt ALL BY MYSELF verhungerte auf den hinteren Plätzen der Charts. Auch PEOPLE HOLD ON war Kassengift, in der Rückschau völlig unbegreiflich, denn mit seinem Mix aus Soul-Motiven (wunderbar: „Day By Day“ und das dezidiert politische „Someday We’ll Have A Better World“) und schneidigen Funk-Patterns („Date With The Rain“) ist es hervorragend gealtert. jov

Penny Goodwin

Portrait Of A Gemini (1974)

In Sammlerkreisen genießt das einzige Album von Penny Goodwin mythischen Status: Nicht nur, weil es lediglich in einer winzigen Auflage von angeblich 2 000 Exemplaren gepresst wurde, sondern weil es, unterstützt von der Creme der Chicagoer Sessionmusiker, darunter Phil Upchurch und Morris Jennings, unglaublich gut ist. „Too Soon You’re Old“ startet mit einem mächtigen HipHop-Beat und steigert sich zu einem Acid-Jazz-Dancer, ihre schmeichelnd-jazzige Interpretation von Henry Mancinis „Slow Hot Wind“ ist Verführung pur, und wie sie bei „What’s Goin‘ On“ den Funk bringt und in „Glory Glory Hallelujah“ und -„Swing Low Sweet Chariot“ übergeht, muss man gehört haben. cw

J. R. Bailey

Just Me ‚N You (1974)

J. R. Bailey hatte sich seine Sporen bereits Ende der Fünfziger als Mitglied diverser DooWop-Outfits verdient. Und obwohl er seit 1965 erste Akzente als Solokünstler setzte, war da nichts, was einen auf die monolithische Größe seines ersten Albums vorbereitet hätte. Es formuliert aus, was Marvin Gaye in seinen majestätischsten Momenten andeutet. Gebadet in üppigen Orchester-Arrangements wie aus der Echokammer, hat dieser bittersüße Gospel des Herzens immer so viel schwelgerischen Groove, dass man sich treiben lassen kann in den ergreifenden Lamentos über harmonische Zweisamkeit. cw

Voices Of East Harlem

Can You Feel It (1974)

Ursprünglich waren die Voices Of East Harlem im Rahmen einer Gemeinde-Initiative gegründet worden und traten mit ihrem Black-Power-Gospelsoul in Schulen und Gemeindezentren auf. Als sie 1974 ihr letztes Album veröffentlichten, war die kämpferische Haltung einem stringenteren musikalischen Konzept gewichen, das die Handschrift ihres innovativen Produzenten Leroy Hutson trägt: So geschmeidig sind die Texturen der zwischen Soul und Funk balancierenden Songs, dass sich durchaus erste Bausteine des Modern Soul erkennen lassen. cw

The Barrino Brothers

Livin‘ High Off The Goodness Of Your Love (1973)

Den Barrino Brothers – Nathaniel, Perry und Julius plus ihr Spezi Robert Roseboro – war es mit ihrem rohen Getto-Soul zwar gelungen, auf dem Invictus-Label der ehemaligen Motown-Hitlieferanten Holland-Dozier-Holland zu landen, ihr Album wurde aber nach dem Misserfolg vorab ausgekoppelter Singles fallen gelassen. Bedauerlich: Die Band passt perfekt zu anderen Invictus-Acts wie The 8th Day oder Chairmen Of The Board. Speziell der Titelsong hat Klassikerqualitäten. cw

Milton Wright

Friends And Buddies (1975)

„Keep It Up“ ließ Milton Wright in Rare-Groove-Zirkeln unsterblich werden. Ursprünglich als Single auf dem kleinen Label Alston -ein Sublabel des Discolabels TK aus Miami -veröffentlicht, wurde so viel Airplay generiert, dass eine erste Edition des Albums ohne den Song zurückgezogen und um Synthieflächen und „Keep It Up“ angereichert neu veröffentlicht wurde. Es ist der beste Track des Bruders von Betty Wright, aber auch der Rest des unbeschwert sonnigen Albums mit seinen entspannten Stevie-Wonder-Vibes ist hörenswert. cw

James Mason

Rhythm Of Life (1977)

Heiliger Gral des Jazz-Funk. James Mason interpretiert die musikalische Philosophie seines Mentors Roy Ayers auf seinem einzigen Album als eine Explosion kosmischer Deep Grooves und spiritueller Vibes -eine der Blaupausen für den Acid-Jazz der frühen Neunziger. Mit einer Fanfare seines ARP-Synthesizers – wie alle anderen Keyboards und Gitarren von Mason selbst gespielt -eröffnet das Album und stürzt sich dann in den mächtigen Drive von „Sweet Power, Your Embrace“. Erst nach drei Minuten setzen die schwerelosen Gospel-Vocals ein: Space is the place, an dem Mason seine Rare-Groove-Hymnen abspult auf dem besten Album, das Lonnie Liston Smith niemals aufgenommen hat. cw

Steve Parks

Movin‘ In The Right Direction (1981)

Steve Parks ist eines der Enigmas des Modern Soul. Zwei Singles und ein Album hat er veröffentlicht, Infos zu seiner Person sind rar gesät. Aber was für Musik! Eingebettet in butterweiche, aber trotzdem zwingende Arrangements, wie man sie von Leroy Hutson oder Leon Ware gewohnt ist, erhebt sich Parks‘ Stimme, die der von Solomon Burke zum verwechseln ähnlich klingt. „Sadness In My Samba“ setzt brasilianische Akzente, aber der Knaller ist der Titeltrack, ein gnadenlos vorantreibender 2-Stepper, der sofort in Herz und Beine geht. Rare-Groove-Klassiker. cw

Leon Ware

Leon Ware (1982)

Sein Geld verdiente Leon Ware vor allem als Songwriter und Produzent für Größen wie Ike &Tina Turner, Marvin Gaye, Michael Jackson und Quincy Jones. Dabei sind auch seine Solo-Alben einen näheren Blick wert. Das 1982 erschienene LEON WARE -Vorsicht, bereits zehn Jahre zuvor erschien ein unbetiteltes Album – ist interessant, weil es vieles verbindet. Philly Soul winkt noch aus dem Rückspiegel, Rare Groove ebenfalls, die 80er-Jahre mit ihren nicht immer einfach zu ertragenden Produktionsmethoden machen sich auch bemerkbar, und schließlich winkt auch noch Adult Orientated Pop mit hinein -so hören wir hier unter anderem Bill Champlin von Chicago als Backgroundsänger. jov

Mari Wilson

Showpeople (1983)

Nicht zu verwechseln mit Mary Wilson von den Supremes natürlich, kam Mari Wilson aus dem Londoner Außenbezirk Neasden und präsentierte sich mit einer eindrucksvollen Bienenkorbfrisur. Mit der passte sie perfekt ins Portfolio der Compact Organization – des einzigen Labels, das mehr Sorgfalt in die Rekonstruktion von Sixties-Stil steckte als die Setdesigner von „Mad Men“. Mari Wilson war die Trumpfk arte von Compact, denn sie konnte wirklich singen und hatte sogar einen Top-Ten-Hit mit „Just What I Always Wanted“: Motown mit Drum Machine. So klang der Zitat-Pop auf dem Gipfel seiner Ära. feb

Luther Vandross

Busy Body (1983)

Luther Vandross und sein Bassist, Keyboarder und (Mit-)Produzent Marcus Miller, waren nie besser als auf dieser Platte. Ungemein funky klingen die sieben Songs, hervorzuheben sind drei: das herrlich schwüle Uptempo-Stück „I’ll Let You Slide“, das gemeinsam mit Dionne Warwick eingesungene „How Many Times Can We Say Goodbye“ und der Schlusstrack, eine atemberaubende Melange aus „Superstar“ von den Carpenters und Aretha Franklins „Until You Come Back To Me (That’s What I’m Gonna Do“): neun Minuten pure Freude. jov

Babyface

Lovers (1986)

Ende der 80er-Jahre wurde Babyface als Produzent und Labelbetreiber endgültig zu einem der Größten des amerikanischen Soul, verhalf unter anderem Usher und TLC zu ihren ersten Erfolgen. Sein Solodebüt deutet diese Zukunft an, updatet den Smooth Soul von 70er-Bands wie den Stylistics, deren „You Make Me Feel Brand New“ hier gecovert wird. Gleichzeitig erinnern Stücke wie „Lovers“ an den Schlafzimmersoul, mit dem später R. Kelly große Erfolge einsammeln sollte. Beste Songs sind indes die unbeschwerte Uptempo-Nummer „Take Your Time“ und der wuchtige Dance-Track „Mary Mack“. jov

Tony! Toni! Toné!

The Revival (1990)

Das zweite Album von Tony! Toni! Toné! ist vielleicht das beste der Band um Raphael Saadiq: Gut gelaunte New-Jack-Swing-Patterns treffen auf jede Menge Querverweise auf den klassischen Soul der 60er-und 70er-Jahre, jenes Genre, dessen Revival Saadiq später mit seinen Produktionsarbeiten und seinen Solo-Alben maßgeblich mitgestaltete. Interessant: die Adaption des Albert-Hammond-Klassikers „It Never Rains (In Southern California)“. jov

Tevin Campbell

I’m Ready (1993)

Vier Songs dieses Albums produzierte Prince. Und auch wenn’s nicht in den Credits steht: Der kleine große Mann verantwortete nicht nur Produktion und Arrangements, sondern sang wohl auch im Hintergrund mit, gut erkennbar bei „The Halls Of Desire“. Dass die restlichen Songs diese Qualität nicht unbedingt halten können, sei erwähnt, die Vergessenheit, in der es schlummert, hat das Album dennoch nicht verdient. jov

Shara Nelson

What Silence Knows (1993)

Man hat sie die „Aretha Franklin des TripHop“ genannt, die Stimme der großen frühen Hits von Massive Attack, vor allem von „Unfinished Sympathy“, für das die Londonerin auch den Text und die Gesangslinie geschrieben hatte. 1993 begann Shara Nelson eine Solokarriere mit dem Album WHAT SILENCE KNOWS. Zusammen mit Howie B (Björk) und Prince Be (PM Dawn) komponierte sie souveräne Songs dafür. Für Saint Etienne, die bei dem großen Motown-Pastiche „One Goodbye in Ten“ mithalfen, war sie, was Dusty Springfield für die Pet Shop Boys war. Doch leider war ihr nie der große Durchbruch vergönnt, zuletzt hörte man von ihr vor Gericht, dass sie einen Radio-DJ stalkte. feb

Blackstreet

Blackstreet (1994)

Das vielleicht beste R’n’B-ProduzentenAlbum der mittleren Neunziger. Teddy Riley, der gemeinhin als Erfinder des New Jack Swing gilt, rekrutierte Blackstreet zunächst aus Sessionmusikern seiner Arbeit an Bobby Browns BOBBY. Eine Umbesetzung später entstand dieses Album, das New Jack Swing einem Update unterzog, mit einem guten Spritzer HipHop anreichert und so Impulse für den Sound des Genres bis ins neue Jahrtausend gab. Beste Momente: Die Hook des Opening-Tracks „Baby Be Mine“ und „Tonight’s The Night“ mit seinem Isaac-Hayes-Sample. jov

The Solution

Communicate (2004)

Was für eine Kombination: Scott Morgan aus Detroit musizierte seit den 60er-Jahren unter anderem mit The Rationals und Fred Smiths Sonic’s Rendezvous Band. Der Schwede Nicke Andersson war Teil von Entombed und The Hellacopters. Als The Solution nahmen sie im Jahr 2004 mit einer Vielzahl von Sessionmusikern dieses Album auf, das den amerikanischen Soul und R’n’B der frühen 60er-Jahre zitiert und mit ein bisschen Staub und Schmutz anreichert. Wer Labels wie Kent oder Stax schätzt, dürfte auch an dieser Platte seine Freude haben -eigenartig, dass dieses Album seinerzeit ohne große Wirkung blieb und verpuffte, alleine „My Mojo Ain’t Working No More“ ist jede Aufmerksamkeit wert. jov

Alice Russell

Pot Of Gold (2008)

Zwischen den Veröffentlichungen all der Duffys, Adeles und Amy Winehouses gingen die Alben von Alice Russell unter. Das ist schade und ungerecht, denn POT OF GOLD zeigt: Die Britin, deren Stimme auch auf Platten von Fat Freddy’s Drop und Mr. Scruff zu hören war und die ein wenig an die von Macy Gray erinnert, kann da locker mithalten. Mehr noch: Wo erwähnte Charts-Größen sich ausschließlich am Soul abarbeiten, erkennt man bei Alice Russell auch noch ein Faible für den Acid Jazz der frühen Neunziger. Zuckerl auf dem Album: eine Gospel anreißende Coverversion des Gnarls-Barkley-Hits „Crazy“. jov

John Legend & The Roots

Wake Up! (2010)

Ursprünglich wollten John Legend und der Roots-Drummer Questlove den Optimismus von Barack Obamas „Change“-Wahlkampf vertonen und das Ergebnis dann noch vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2008 veröffentlichen. Aus der geplanten Single, einer Neueinspielung des Harold-Melvin-Hits „Wake Up Everybody“, wurde schließlich doch ein Album, das sich quer durch Conscious Soul covert und nicht nur wegen der Songauswahl (Mike James Kirklands „Hang On In There“, Baby Hueys „Hard Times“ und viele andere) toll klingt. Das liegt auch daran, dass Questlove John Legend mit seiner Produktion in einem anderen Umfeld stattfinden lässt als auf dessen herkömmlichen Studioalben. Statt flächigem Soul gibt’s auf WAKE UP massig Querverweise Richtung Funk und Hip-Hop und interessante Feature-Gäste. jov

Avantgarde

Texte von Ivo Ligeti

Pierre Schaeffer

Cinq études de bruit (1948)

In einer fairen Welt hätte Pierre Schaeffer längst das Standing eines Steve Reich oder John Cage erreicht. Weil die Welt aber böse ist, wird Schaeffer nie ME-Held sein und muss sich stattdessen mit dem Prädikat „Geheimtipp“ quälen. Dabei war er einer der Ersten, die erkannt haben, dass Musik nicht nur das harmonische Ineinandergreifen von Instrumenten, sondern alles sein konnte. So hört man auf den fünf Stücken Züge, Spielzeuge, Pfannen, Boote oder oft: einfach nichts. Die Musique concrète war geboren. Schaeffer trieb seine Ideen auf die Spitze und eröffnete in Paris ein regelrechtes Labor zur Erforschung von Geräuschen. Unter seinen damaligen Schülern: Ein gewisser Jean Michel Jarre …

Masaru Sato

Yojimbo (OST)(1962)

Zugegeben, der Soundtrack des Samurai-Klassikers „Yojimbo“ ist bei Discogs-Preisen von 100 Euro aufwärts ein gefährlicher Geheimtipp. Allerdings hat sich wenige Tage vor Redaktionsschluss der heldenhafte YouTuber RaulGordonG dazu erbarmt, Masaru Satos Meisterwerk in Gänze hochzuladen. Wir sagen danke und freuen uns über eine Dreiviertelstunde gepimpte Klassik mit traditioneller asiatischer Perkussion, die trotz ihrer Funktion als Hintergrundmusik enormen Eigenwert besitzt. Der Film ist auch zu empfehlen, schließlich diente er Sergio Leone als Vorlage für „Für eine Handvoll Dollar“ und war damit die Blaupause des Spaghetti-Westerns.

C.A. Quintet

Trip Thru Hell (1968)

Der Name passt nicht. Wenn uns das C. A. Quintet aus Minnesota hier auf einen Trip schickt, dann nicht durch die Hölle, sondern durch ein Hanffeld, auf dem regenbogenfarbene Einhörner grasen. Die Gitarren flirren bekifft, Ken Erwins Stimme ist der des jungen Syd Barretts fast schon unheimlich nah. Da möchte man ihm seinen sehnlichsten Wunsch „Bury Me In A Marijuana Field“ sofort erfüllen. Im Jahr 1968 wollten das allerdings nicht sehr viele: TRIP THRU HELL verkaufte nicht einmal fünfh undert Exemplare. Erst in den 1980er-Jahren stieg die Nachfrage, woraufh in das Album bei Rape An Ape Records neu aufgelegt wurde. Auch dieser Name passt nicht.

Vladimir Cosma

Insolite And Co. (1969)

Vieles auf INSOLITE AND CO. lässt einen unmittelbar an die Bands denken, die zur damaligen Zeit in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schossen: Can, Faust, Amon Düül. Dabei stammt Vladimir Cosma, Komponist dieses Krautgemetzels, aus Rumänien und lebte und wirkte lange Zeit in Paris. Nach unzähligen Soundtracks (im hohen dreistelligen Bereich) scheint diese Musik trotz ihrer visuellen Ader geradezu erleichtert, nicht im Dienste des Films stehen zu müssen. Mal kreisen Flöten und Glockenspiele wie verliebte Schmetterlinge umeinander, mal klingt es, als fände man sich in einer Tropfsteinhöhle wieder.

Dreamies

Auralgraphic Entertainment (1974)

1972, nach zehn Jahren aufgesetzter Freundlichkeit im steif sitzenden Anzug, hatte Bill Holt die Schnauze voll: Lange genug hatte er im Fernsehen tatenlos zugesehen, wie sich die Welt veränderte, wie Kennedy starb, die Beatles groß wurden und der Vietnamkrieg die USA auf den Kopf stellte. Jetzt wollte er selber seinen Teil dazu beitragen. Holt kündigte, studierte das Werk von John Cage und kaufte sich das Nötigste an Equipment, um seinem eigenen giftigen Kommentar zur Lage der Nation musikalisch Ausdruck zu verleihen. Das Resultat ist „Revolution 9“ von den Beatles auf Albumlänge. Gepaart mit Holts zittriger Fistelstimme und ein paar Gitarrenakkorden: ein Meisterwerk. Eins, das seinen Schöpfer leider pleite gehen ließ.

Persona

Som (1975)

Alben wie SOM zeigen uns erst, wie begrenzt und lückenhaft unsere eigene Wahrnehmung von Kultur im Allgemeinen und von experimenteller Musik im Besonderen ist. Wenn wir was von Avantgarde hören, denken wir an grauhaarige, ernst guckende Männer, die auf Schwarz-Weiß-Bildern vor großen primitiven Synthesizern sitzen. Dass es anderswo auf der Welt ganze Szenen gibt (in diesem Fall: Brasilien), deren unwestliche Experimentalmusik nur dort gedeihen kann, bekommen wir gar nicht mit. SOM ist ein minimalistischer, psychedelischer, kosmischer, ungreifbarer Jam, direkt aus dem Dschungel. Hoffentlich erbarmt sich irgendein Obskuritäten-Label für ein Reissue.

The Plastic People Of The Universe

Egon Bondy ’s Happy Heart Club Banned (1978)

Jeder Mensch, der Frank Zappa nicht völlig scheiße findet, sollte sich dieses Album noch heute kaufen: HEART CLUB BANNED besteht aus klaustrophobischem Free Jazz und Gedichten des regierungskritischen tschechischen Philosophen Egon Bondy. Nicht gerade begeistert war folglich das damalige Kommunisten-Regime Tschechiens. Die Plastic People wurden mehrfach verhaftet, konnten ihr Album nicht auf normalem Wege veröffentlichen. Durch den Prager Underground fleuchten nur illegale Kassetten mit oft fürchterlichem Sound, ihren Zunder hat die Musik aber bis heute nicht verloren.

Glenn Branca

The Ascension (1981)

THE ASCENSION ist ein Wolf im Godzillapelz. Zunächst denkt man: Rock, der fies schrammelt, bis die Ohren bluten. Damit liegt man zwar nicht ganz daneben, wird aber auch Glenn Brancas akademischem Anspruch nicht gerecht. Durch die Lupe betrachtet offenbart sich THE ASCENSION nämlich als moderne Klassik, dargeboten von einem Sextett aus Bass, Schlagzeug und vier Gitarren (eine davon bedient ein gewisser Lee Ranaldo). Wer einen Einstieg in die vergessenen Abgründe der New Yorker No-Wave-Szene will, hier ist er.

Phill Niblock

Nothin To Look At Just A Record (1982)

Die Mieten waren billig, die Drogen noch billiger, und die Kreativität schien grenzenlos: New Yorks Downtown war von den frühen Sechzigern bis in die Achtziger hinein vielleicht nicht der schönste Ort der Welt, aber ein beispielloser Nährboden für musikalische Grenzüberschreitungen. Die „Stars“ der Avantgarde, Steve Reich, Philip Glass, La Monte Young und John Zorn, schrieben hier Geschichte. Dass viel Exzellentes in Vergessenheit geriet, liegt in der Natur der Sache. Diese Komposition von Phill Niblock ist zum Beispiel das beste Album aller Zeiten, auf dem nur Posaunen zum Einsatz kommen. Und auch sonst wärmstens zu empfehlen.

Nurse With Wound

Homotopy To Marie (1982)

Kann ein Album mit einem 25-Minüter namens „The Schmürz“ schlecht sein? Wir glauben: Nein. Trotzdem ist Vorsicht geboten beim fünften Album von Steven Stapleton, denn das beliebteste Stilmittel des Briten ist die Stille. Stille, die immer wieder durchbrochen wird von klirrendem Metall, quietschenden Türen oder gruseligen Dialogen. HOMOTOPY TO MARIE ist der Low-Budget-Horrorfilm unter den Avantgarde-Geheimtipps: Fast schon stumpf in seiner Machart, aber doch am wirkungsvollsten.

Manuel Göttsching

E2-E4 (1984)

Was im Wikipedia-Eintrag „1981 in music“ so drinsteht: Eddie van Halen heiratet, U2 treten erstmals im Fernsehen auf, und Ozzy beißt einer Taube den Kopf ab. Kein Wort darüber, dass am 12. Dezember ein Mann namens Manuel Göttsching in sein Berliner Studio ging, eine Stunde mit Synthesizer und Gitarre jammte und die elektronische Musik nie wieder dieselbe sein sollte. Drei Jahre später veröffentlicht, war E2-E4 immer noch die Geburtsurkunde des Techno, die ihre Gültigkeit nie verlieren wird.

Arthur Russell

World Of Echo (1986)

Vor vier Jahren wurde an dieser Stelle eine Compilation empfohlen, die den Titel THE WORLD OF ARTHUR RUSSELL trägt und eher auf Russells nicht minder hervorragende Disco-Produktionen abzielt, die seine wirkliche Gedankenwelt aber nur streifen. Wer in diese völlig hineintauchen will, der ist auf WORLD OF ECHO angewiesen. Ein Cello, etwas Handperkussion und Russells dünnes Stimmchen sind alles, an dem sich der Hörer festklammern kann. So entrückt und einsam und doch so schön, dass man weinen will. Russell starb sechs Jahre später viel zu früh an Aids. Aufgrund der schlechten Angewohnheit, Projekte nie fertigzustellen, sollte WORLD OF ECHO sein einziges „richtiges“ Album bleiben.

The Residents

God In Three Persons (1988)

Richtig, die Residents sind diese anonyme Band mit den Augapfel-Köpfen, die es tatsächlich schon seit 1969 gibt. Doch auch wenn jeder sofort ein Bild vor Augen hat, wer macht sich schon die Mühe, sich durch alle 48 Residents-Alben durchzuhören (außer ME-Praktis auf der Suche nach Avantgarde-Geheimtipps)? Und siehe da: Zwischen unfassbarem Schund findet sich dort tatsächlich ein großartiges Konzeptalbum über ein siamesisches Zwillingspaar mit Superkräften, das weit weniger merkwürdig ist, als es auf den ersten Blick klingt. Für Residents-Verhältnisse, versteht sich.

Merzbow

Pulse Demon (1996)

Wer den Versuch unternimmt, sich dieses Album auf eine gewöhnliche Art und Weise schmackhaft zu machen, hat etwas nicht richtig verstanden: PULSE DEMON ist keine Platte die gehört werden will, genauso wenig wie „4:33“ von John Cage mehr ist als das Konzept hinter der eigentlichen Kunst. PULSE DEMON ist vielmehr ein Versuch, die extremstmögliche (um nicht zu sagen: unhörbarste) Musik zu produzieren, die irgendwie machbar ist. Und genau das ist dem Japaner Merzbow mit diesem Noise-Ungetüm gelungen. Respekt.

Sonic Youth

SYR4: Goodbye 20th Century (1999)

Thurston Moore und Lee Ranaldo haben sich einst im Gitarrenorchester des No-Wave-Szenepapstes Glenn Branca kennengelernt, sind also trotz ihres Daseins als Indie-Erfinder tief in der Avantgarde verwurzelt bzw. ihr verpflichtet. So scheint dieses Album nur auf den ersten Blick krude, auf den zweiten ist es eine überfällige Hommage an eine Musik, die Sonic Youth überhaupt erst möglich gemacht hat: Die Band interpretiert auf SYR4 Stücke von Avantgarde-Komponisten wie John Cage, Steve Reich und Yoko Ono. Keine leichte Kost, aber ein lohnenswerter und leider oft übersehener Einblick in die Funktionsweise einer der wichtigsten Bands überhaupt.

György Ligeti

The Ligeti Project II (2002)

Spätestens seit Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ kommen die Stücke des ungarischen Komponisten György Ligeti gefühlt in jedem zweiten Film vor. Moderne, avantgardistische Klassik, die frei von jeglicher intellektueller Selbstbefriedigung minimalistische Soundscapes aufb aut und wieder in sich zusammenfallen lässt, aber auch ungarische und rumänische Folklore streift. Bevor man sich an Brocken wie Morton Feldman die Zähne ausbeißt: Hier ist der Einstieg.

Steve Roden

Speak No More About The Leaves (2003)

Steve Roden aus Los Angeles malt, haut Skulpturen, dreht Filme und schreibt. Nebenbei hat er noch ein Genre begründet: Die Lowercase Music, die vornehmlich aus Stille besteht und extra leise abgespielt werden soll. Aha. Nicht viel normaler, aber wesentlich wirkungsvoller ist dieses Album: Roden hat die Silben aus Arnold Schönbergs „Buch der hängenden Gärten“ aufgeschrieben, Nach Alphabet geordnet und daraus Palindrome gebildet. Das Ganze ins Mikro geflüstert, bisschen Bass drunter -fertig!

David Lynch

The Air Is On Fire (2007)

Auch wenn David Lynchs „normale“ Studioalben auf den zweiten Blick ziemlich gut sind, liegt das eigentliche musikalische Vermächtnis des großen Regisseurs in seinen Ambient-Arbeiten -man denke nur an die Geräuschkulisse von „Eraserhead“. Oder an dieses Monstrum hier: THE AIR IS ON FIRE fasst Stücke zusammen, die im Hintergrund einer Lynch-Ausstellung in Paris liefen, sich aber auch im Gruselkabinett gut machten. Tipp vom Profi: Nicht alleine, im Dunkeln oder auf Drogen anhören. Am besten mit Ton aus.

Burial Chamber Trio

Burial Chamber Trio (2007)

Im Black Metal und seinen Ausläufern, sprich: in einem Paralleluniversum, das im Musikexpress für gewöhnlich nicht stattfindet, ist der Ungar Attila Csihar einer der umtriebigsten und faszinierendsten Vokalisten. Am bekanntesten dürften seine Arbeiten mit Mayhem und Sunn O))) sein, aber nirgends kommt man seiner beklemmenden, selbstzerstörerischen Aura so nah wie auf diesem Drone-Ungetüm. Greg Anderson, die unproduktivere Hälfte von Sunn O))), und der australische Tausendsassa Oren Ambarchi komplettieren das Trio.

Scott Walker

And Who Shall Go To The Ball? And What Shall Go To The Ball?(2007)

Menschen, die sich neue Scott-Walker-Alben kaufen, sind mutig. Menschen, die Scott Walker fragen, ob er für ihre Tanz-Choreografie den passenden Soundtrack schreiben könnte, sind verrückt. Das Londoner Tanzkollektiv Candoco wagte den Schritt – und wurde mit einer Wundertüte aus zahmer Klassik, dämonischem Klezmer und psychoartigen Streichersticheleien belohnt. Der große Aufschrei, den neues Walker-Material zwangsläufig nach sich zieht, blieb aus, wohl hauptsächlich, weil der Maestro auf Gesang verzichtet hat. Trotzdem nicht nur für Komplettisten.

Yellow Swans

Going Places (2009)

GOING PLACES ist ein Abschiedsalbum im klassischen Sinne: 2008 erklärten Pete Swanson und Gabriel Mindel Saloman, gemeinsam die Hohepriester des Noise, das Experiment Yellow Swans für beendet. Ihr letztes Lebenszeichen ist jedoch kein Abgang mit Feuerwerk, sondern vielmehr ein Nachhall ihres gesamten Werks. Vergleicht man GOING PLACES mit dem Debüt BRING THE NEON WAR HOME von 2004 (dazwischen erschienen ungefähr 30 Tonträger), klingt es tatsächlich nach einer sehr reduzierten, von Clicks, Cuts und Beats befreiten Variante ihrer Noise-Schleifen, der man einen gewissen Schwermut, aber auch etwas Optimistisches nicht absprechen kann.

The Knife With Mt. Sims & Planningtorock

Tomorrow, In A Year (2010)

Bei SILENT SHOUT haben sie alle applaudiert, bei SHAKING THE HABITUAL ja sowieso. Dabei fand die Avantgarde-Werdung von The Knife schon drei Jahre vorher ihr rühmliches Ende. TOMORROW, IN A YEAR ist die Studiovertonung einer Oper, die das dänische Performance-Kollektiv Hotel Pro Forma über Charles Darwin geschrieben hat, aufgenommen mit den Berlin based Musikern Mt. Sims und Planningtorock. Sprich: ein ziemlicher Brocken. Da kann man gerne von Selbstüberschätzung reden und sich über den schrillen Operngesang beschweren. Oder TOMORROW, IN A YEAR einfach als das betrachten, was es ist: der einsame künstlerische Höhepunkt im Schaffen aller Beteiligten.

Shackleton

Music For The Quiet Room / The Drawbar Organ EPs (2012)

„Ist das noch Dubstep?“ ist bei Szene-Schwergewicht Sam Shackleton längst die falsche Frage. Klar kann man der Genrekommode links und rechts noch weitere Schubladen hinzuschreinern. Dabei sollte man sich allerdings vor Augen führen, dass Shackletons Arbeitsweise, und erst recht das Ergebnis, mehr denen eines klassischen Komponisten als denen eines Dance-Produzenten entsprechen. Was von der Bassmusik übrig blieb, spielt sich größtenteils auf den DRAWBAR ORGAN EPs ab, MUSIC FOR THE QUIET ROOM ist eine fünfteilige Suite, in der Tribal Beats, White Noise und allerlei Dekogeräusche umeinander schwirren, verpuffen und immer wieder kollidieren.

David First

Electronic Works 1976-1977 (2014)

David Firsts elektronischen Exkursionen haftet etwas an, das avantgardistischer Musik leider viel zu oft fehlt: Humor, und zwar nicht zu knapp. Mal imitieren die Synthesizer ein kratziges Vogelzwitschern, andernorts klingen sie wie ein altes Einwähl-Modem auf Acid, das sich in den eigenen Schwanz beißen will. Ungefähr so muss es geklungen haben, wenn Ralf Hütter und Florian Schneider bei einem Feierabendbierchen aus Spaß ihre Instrumente gequält haben. Hübsche Vorstellung.

Carla Bozulich

Boy (2014)

BOY ist Carla Bozulichs Pop-Album -so steht es zumindest in den Liner Notes geschrieben. Aber wie viel Pop kann in einer Frau stecken, die ihre erste Band nach ihren unsichtbaren Freundinnen benannt hat? So wenig und doch so viel. Auch wenn es erstens eine Floskel und zweitens eine faule Ausrede ist: Man kann dieses Album nicht in Worte fassen. Nur in ein paar lose Koordinaten zwängen, die einem in den Sinn kommen und dem Gehörten nicht ansatzweise gerecht werden: Tom Waits, Michael Gira, Patti Smith, Alt-Country, Noise, Industrial. Und, auch wenn man damit vorsichtig sein sollte: Pop.