1998: Die 50 besten Platten
Die ME/Sounds-Redaktion hat entschieden: über Spreu und Weizen, Gut und Böse, Himmel und Hölle. Hier sind sie nun, die besten Platten des Jahres.
1 FATBOY SLIM – You’ve Come A Long Way, Baby (Skint/Epic/Sony Music)
Wollen wir wetten, geneigter Leser? Nächstes Jahr um diese Zeit spricht niemand mehr von Fatboy Slim. „You ve Come A Long Way, Baby“ ist nämlich – wie der britische „Melody Maker“ so trefflich bemerkte – eine lupenreine „Zeitgeist record“. Fatboy Slim ist dann garantiert längst genauso ein Teil der Bio- und Diskographie von Norman Cook wie Pizzaman, Freakpower oder The Mighty Dub Katz. Ex und Pop. Egal. Denn das zweite reguläre Fatboy Slim-Album (nach „Better Living Through Chemistry“, das Mix-Album „On The Floor At The Boutique“ nicht mitgerechnet) traf 1998 wie kein anderes den Nerv der Zeit. Angefangen hatte alles bereits im Frühsommer als der Chef der „Big Beat Boutique“ aus Brighton den „Rockafeller Skank“ in die Clubs jagte. Das Rezept war dabei so einfach wie genial. Man nehme einen x-beliebigen Track von einem x-beliebigen Sampler mit unbekannten Soul-Nummern, dazu ein paar verfremdete HipHop-Vocals und bastle daraus dann ein paar Schleifen. Dazu eine Prise Surfgitarre und ein paar Breakbeats. Das Ganze dann noch nach Belieben hoch- oder runterpitchen. Fertig. Doch halt. Ganz so leicht war es doch nicht. Man mußte schon jenes untrügliche Gespür für den unwiderstehlichen Beat mitbringen. Dazu die Chuzpe, die Lyrics so sinnfrei zu halten und/oder den eigenen Namen so oft zu wiederholen (zum Beispiel in „Fucking In Heaven“), bis die Grenzen der Selbstparodie längst überschritten waren. Und natürlich jeden Song ohne Rücksicht auf Verluste so fett und selbstbewußt dahermarschieren zu lassen, wie den Kameraden auf dem Cover von „You’ve Come A Long Way, Baby“. Immer voll auf die zwölf war die Devise von Fatboy Slim, die einzige wohlgemerkt. Früher, ganz ganz früher, waren für solche, äh, Songs Motörhead und die Ramones zuständig. 1998 war es Fatboy Slim. Erst – wie gesagt – mit dem „Rockafeller Skank“, dann mit seiner zweiten Single „Gangster Tippin'“ (wie nur soll man die calypsomäßige Bläserlinie je wieder aus dem Gehörgang kriegen?). Und dann mit dem ganzen Paket, „You’ve Come A Long Way, Baby“. Auf dem stand ganz groß PARTY! drauf. Sei es „Kalifornia“ mit seinen seltsamen Sitar-Sprengseln, sei es das HipHop-lastige „You’re Not From Brighton“ oder „Build It Up, Tear It Down“, die Definition von Big Beat schlechthin. Das einzige, was hier wirklich zählte, war Spaß. Tanzen. Abfeiern. Durchdrehen. Jetzt. Hier. Sofort. Und dazu war Norman Cook, dem Hofnarren der Popmusik, so ziemlich jedes Mittel recht. Hauptsächlich aber verunstaltete Sprachfetzen, die scheinbar ziellos in einem Meer aus riesigen, fetten Beats und warmen Basslinien umhertrieben. Und dabei hatte Fatboy Slim doch an alles gedacht. Auch an „Praise You“, jene frühe Primal-Scream-Späte-Beatles-Hymne, die wie kein zweiter Track dazu angetan war, als letzter Song jeder wirklich großen Party am Morgen den Sonnenaufgang zu begrüßen. Wow. Was für eine Nacht. Was für ein Spaß. Was für ein Album.
2 MARILYN MANSON – Mechanical Animals (Universal)
Was viele nicht wahr haben wollten: Neben der spektakulären Metamorphose vom albernen Schreckgespenst zu einem schaurig schönen thin white duke, machte Marilyn Manson auch eine musikalische Wandlung durch. Unter der Regie von Top-Produzent Michael Beinhorn wurden Gitarren plötzlich zu wutschnaubenden Massenvernichtungswaffen, Synthies zu gleißenden Flächen und Samples zu bösartigen Viren. Glamrock war wieder da, allerdings in einer fiesen, monströsen Mutation. Damit nicht genug. Mit Tracks wie „The Dope Show“ oder „Rock Is Dead“ bewies der Höllenfürst, daß man es auch in der Unterwelt trefflich versteht, beängstigend große Songs zu schreiben.
3 AIR – Moon Safari (Source/Virgin)
Die Pop-Platte des Jahres 1998 kam ohne Zweifel aus Frankreich. Nicolas Codin und Jean Benoit Dunckel alias Air kreierten auf ihrem entwaffnenden Debütalbum aus sanften Beats, federleichten Elektronik-Sounds und luftigen Melodien die verführerischsten Songs der Saison. Zartschmelzende Arrangements und flauschige Harmonien machten aus Tracks wie dem frei schwebenden „You Make It Easy“ oder dem schwärmerischen „Kelly Watch The Stars“ pastellfarbene Luftschlösser, in denen ausgelassen getanzt wurde. Nicht zuletzt „Sexy Boy“, die grandiose Hitsingle der gänzlich streßfreien „Moon Safari“ sorgte für entrückte Verzückung auf den Tanzflächen.
4 JEWEL – 5pirit (Atlantic/EastWest)
Ihr Debütalbum „Pieces Of You‘ war schon zum Sterben schön. Ein Hauch von einem Hauch von Folk.“Spirit“ stand dem in nichts nach. Im Gegenteil. Songs wie „Down So Long“ (wer ist eigentlich Sheryl Crow?), „Deep Water“ oder „Hands“ zählten zu den feinsten, feingliedrigsten Liedern, die man 1998 hören konnte. Songs, die viel mehr waren als Blaupausen vermeintlicher Gefühle. Hier ging es um echte Emotionen. Ohne künstliche Zusätze, ohne kitschige Süßstoffe. Die hohe Schule des Songwriting, brillant und mit der angemessenen Zurückhaltung in Szene gesetzt von Patrick Leonard (u.a. Madonna). Ein Album, das gerade durch seine leisen Töne aufhorchen ließ.
5 BELLE & SEBASTIAN – The Boy With The Arab Strap (Virgin)
Bereits 1997 hatte so mancher zu „If You’re Feeling Sinister“ Tränen des Glücks in den Augen. Im Sommer 1998 verfielen dann ungleich mehr Menschen den feingesponnenen, federleichten Folkszizzen der schottischen Band. Begleitet von einem beachtlichen Medienecho verzauberten Sänger Stuart Murdoch und seine Freunde jeden, der sich auch nur ansatzweise auf die elegische Anmut von Liedern wie „Is It Wicked Not To Care?“ oder „Dirty Dream Number Two“ einließ. Vergleiche zu Feit, Nick Drake oder den Smiths wurden gezogen und wieder verworfen. Denn niemand setzte Empfindungen und Stimmungen auch nur annähernd so charmant um wie Belle & Sebastian.
6 UNKLE Psyence Fiction (Mo’Wax/Motor Music)
Nur wenige wollten DJ Shadow und James Lavelle folgen, als sie nach dreijähriger Zusammenarbeit der Öffentlichkeit ihren Raumgleiter zu neuen Klangwelten präsentierten. Wer sich auf die Reise einließ, traf auf alte Bekannte: Richard Ashcroft von The Verve zum Beispiel. OderThom Yorke von Radiohead. Sie alle wurden miteinbezogen in ein kühnes Projekt, von dem nicht weniger erwartet wurde als die Zukunft der Musik. Zumindest Ansätze davon wollte so mancher in dem bizarren, zum Teil gewagt überladenen Klangkosmos der beiden Sound-Kosmonauten entdecken. Die anderen bestaunten zumindest die atemberaubende Ästhetik des Klangkunstwerks.
7 MANIC STREET PREACHERS – This Is My Truth Tell Me Yours (Epic/Sony Music)
Pathos, Inbrunst, Verzweiflung, Dramatik, Schmerz. Die Manic Street Preachers zogen auf ihrem fünften Album – dem ersten ohne den verschollenen Gitarristen und Texter Richey Edwards – sämtliche Register, um aufgewühlte Hörer zurückzulassen. Majestätische Hymnen wie „You Stole The Sun From My Heart“ oder „If You Tolerate This Your Children Will Be Next“ trieben einem die Tränen in die Augen, schwermütige Elegien wie „Tsunami“ oder „Nobody Loved You“ verdunkelten die Sonne. Parallel dazu definierten Sean Moore, Nicky Wire und James Dean Bradfield mit ihren gewaltigen Arrangements den Begriff „Stadion rock“ neu.
8 4 HERO – Two Pages (Talkin Loud/Motor Music)
Marc Mac und Dego McFarlane arbeiten schon seit 18 Jahren mit Beats und Breaks. Daß aber nicht 4 Hero, sondern Roni Size bereits 1997 mit „New Forms“ die Volljährigkeit der hochtiefen Rhythmen feierte, tut dieser Tatsache keinen Abbruch: Dem Opus von Roni Size stellten 4 Hero das soulige „Two Pages“ zur Seite. Statt kühler Elektronik und rhythmischer Reduktion boten 4 Hero Gefühligkeit im Breitwandformat, ohne Angst vor Streichern und ätherischen Balladen – zumindest auf CD 1. CD 2 dagegen bot im Überfluß, was die Die-Hard-Gefolgschaft des Genres besonders schätzt: technoid-minimalistische Entwürfe und digitale Studiotüftelei. Keine Platte. Ein Ereignis.
9 BECK – Mutations (Geffen/Universal)
Das sollte also der Nachfolger von „Odelay“ sein? Nichts Fetziges, nichts Krächziges, nur lauter „schöne“ Lieder? Ja – und nein: Eigentlich sollte das Album, wie bei Beck üblich, als Zwischenbilanz seines ausufernden Outputs bei einem Mini-Label erscheinen. Doch Major Geffen wollte sich die Songperlen nicht entgehen lassen. Beck bummelte durch den Sound-Supermarkt, ohne allerdings auf trendige Sonderangebote zurückzugreifen. Im Einkaufswagen landeten eher Klänge aus den Abteilungen Blues, Lounge, Folk, Country und Vaudeville. Der geneigte Hörer fühlte sich mal an Neil Young, mal 3n die Beatles, mal an eine hawaiianische Tanz-Combo erinnert.
10 PULP – This Is Hardcore (Mercury)
Sexsymbol ist er also auch noch. Kein Wunder: Der bleichgesichtige Jarvis Cocker versteht es, aus sich ein Geheimnis zu machen. Viel wurde über ihn und das ’98er Pulp-Album „This Is Hardcore“ geschrieben, viel gerätselt über geschlechtliche Ambivalenz. „This Is Hardcore“ lud auch geradezu dazu ein: Mit „The Fear“, einem Stück über undefinierbare Existenzangst, öffnete sich der Vorhang zum grollen Gefühlskino. Held Jarvis durchschritt dunkle, schwerbehangene Räume, zeigte glamourös die kalte Schulter („Party Hard“) oder nahm Wechselbäder in Kälte und Wärme, Liebe und Distanz. Ein Album als Fallgrube: großartig, aber doppelbödig bis dorthinaus.
11 THE NOTWIST – Shrink (Community/Virgin)
Wem die ernsthafte Fahndung nach ungehörten Klängen noch am Herzen liegt, dem sei „Shrink“ bedingungslos an selbiges gelegt. Denn die Gebrüder Acher aus der bayerischen Talentmetropole Weilheim verbanden auf ihrem ’98er Werk feinstes Songwriting mit tonnenschweren Riffs,filigrane Saxophonsoli mit glucksender Elektronik, Groove mit sperrigen Klangtexturen aus dem unansehnlichen Equipment von Console, Notwists nerdig-genialischem Mann fürs Filigrane. Zu „Shrink“ ließ es sich abrocken, arschwackeln und einfach nur zuhören-die Synthese aus Intellekt und Leidenschaft machte das Album zu einer der wichtigsten deutschen Veröffentlichungen des Jahres.
12 PROPELLER HEADS Decksanddrumsandrockandroll (Wall Of Sound/Pias/Connected)
Für Prodigy, The Chemical Brothers und die meisten anderen chemischen Brüder im Big Beat war 1997 das Jahr. Alex Gifford und Will White wollten das letzte Wort haben und kamem mit ihrem Album erst im Januar 1998. Das Warten hatte sich aber gelohnt. Die Propellerheads offerierten mehr Substanz als die Firestarter um Liam Howlett und bewiesen mehr Eleganz als Bentley Rhythm Ace und die Chemical Brothers zusammen. Allein ihre grandiose Zusammenarbeit mit Shirley Bassey („History Repeating“) und das neunminütige James Bond-Epos „In Her Majesty’s Secret Service“ machten das Album unverzichtbar.
13 DJ HELL – Munich Machine (Disko B/V2/RTD)
Helmut Geier spannte auf seinem zweiten Album einen weiten Bogen. Angefangen bei strängen Cover-Versionen wie der kalt lächelnden Neuauflage von „SuicideCommando“ (im Original von No More) und „Copa“, der surrealen Bearbeitung von Barry Manilows „Copacabana“, über komplexe Club-Gedanken („Jack The House“) bis hin zu kühnen Pop-Entwürfen („Warm Leatherette“). Das alles und noch viel mehr – natürlich gehalten in einem smarten Techno- und House-Design, wie es nur jemand entwerfen kann, der viel aufgelegt und noch mehr gehört hat. Übrigens: Der Sonderpreis der ME/Sounds-Jury für des „Beste Booklet des Jahres“ geht ebenfalls an DJ Hell
14 MADONNA – Ray Of Light (Maverick/WEA)
Ambient-Sound-Schleier, rückwärtsgespielte Tapeloops, hie und da ein Breakbeat – willkommen in der Moderne, Madonna – oder besser: willkommen im Vorzimmer der Moderne. Denn Frau Ciccone deutete an, ohne allzu konkret zu werden. Die elektronischen Effekte auf „Ray Of Light“ waren denn auch dezent plaziert, mehr Soundverzierung als ein kompromißloses Ja zum Heute. Piepsende Synthies, wummernde Bässe, Bits ’n Beats, Echos und Samplesgingen aufs Konto von William Orbit. Der britische Knöpfchendreher hat „Ray Of Light“ co-produziert. Aber Madonna blieb letztlich Madonna und untermauerte dies mit einer Sammlung großartiger Songs.
15 JON SPENCER BLUES EXPLOSION – Acme (Mute/Interecord)
Und wieder einmal ging der Ex-Pussy-Galore-Wüstling Jon Spencer auf den Blues los. War es auf „Now I Got Worry“. dem letzten Album der Blues Explosion, noch die Übersteigerung, die Verzerrung im Ausdruck und die Zerstörung der Songs, so fing „Acme“ bereits bei den Trümmern des Blues an. Spencer beauftragte Kunsthandwerker wie Dan Nakamura, ihm daraus ein schönes Mosaik zusammenzusetzen. Das Experiment war durchaus gelungen, die Remixe klangen trotz der Werkstattarbeit eindeutig nach Jon Spencer und haben seine musikalische Palette zum Soul und zur DJ-Musik erweitert. Eine reife Leistung.
16 R.E.M. – Up (WEA)
Befangen in einer Zwickmühle wie die ähnlich hoch gehandelten U2, begegneten R.E.M. den enormen Erwartungen mit beachtlicher Eleganz. Der Ausstieg von Drummer Bill Berry wurde mit alten Taktmaschinen aufgefangen, summende Moogs und gesampelte Streicher sorgten dafür, daß „Up“ im Plattenschrank einen Platz in der Nähe von Grandaddy und anderen LoFi-Meisterwerken fand. Daraufkamen schwitzende Rocker wie „Lotus“ ebenso zur Geltung wie filigran gesponnene Balladen á la „Walk Unafraid“, alles dank Michael Stipes wandlungsfähiger, unverkennbarer Stimme. „Zurück in die Zukunft“ lautete das Motto – wer „Automatic For The People“ mochte, liebte auch „Up“.
17 MASSIVE ATTACK – Mezzanine (Virgin)
Ein Album mit Schmerz und Paranoia braucht länger, um als das erkannt zu werden, was es ist: groß.“Mezzanine“ war 1998 so ein Album, das unheimlich gewachsen ist. Anfänglichen Unkenrufern zum Trotz, die Massive Attacks Neue natürlich an „Blue Lines“ maßen (mit der das Trio mit lockerer Handschrift Musikgeschichte schrieb), erkannte und verstand man die Dunkelheit, die melancholische Schwere von „Mezzanine“. Nimm „Teardrop“: Eine kleine Träne läuft über die Wange, schwillt zu einem großen Tropfen – und platzt. Kein Wunder, daß Sampling-Credits auch an „The Velvet Underground“ gingen. Denn auch Massive Attack glänzten mit Düsternis deluxe.