1998: Die 50 besten Platten


18 TORTOISE – TNT (City Slang/EFA)

Tortoise sind nicht stehengeblieben. Die Multi-Instrumentalisten Dan Bitney, Johnny Herndon, DougMcCombs.John McEntire, der (mittlerweile ausgestiegene) Dave Pajo und Jeff Parker hatten die Erkenntnisse, die sie in ihren Nebenprojekten gewonnen hatten, einfließen lassen in die Musik des dritten regulären Tortoise-Albums.“TNT“ war das reife Album einer Band, für die „Entwicklung“ und „Innovation“ keine Fremdwörter sind, ein dichtes, schlüssiges Werk. Natürlich standen die eklektischen Farbtupfer, die Tortoise auf die musikalische Leinwand tropfen ließen, fest auf dem Boden des Post-Rock. Noch nie hatte die Band aus Chicago ein derart homogenes Werk zustande gebracht.

19 LAMBCHOP – What Another Man Spills (Cityslang/EFA)

Nicht nur schlechtgelaunte Country-Adaptionen in LoFi, sondern erstmals auch Anleihen bei den Seventies machten „What Another Man Spills“ zum bisher variantenreichsten Output der verkaterten Heilsarmee-Kapelle aus Nashville.Tennessee. Bandboss Richard Wagner trimmte seine vielköpfige Truppe auf Funk in Zeitlupe, liebevoll persiflierte Discomusik und eine spezielle Vision desperaten weißen Souls. Dazugrummelt und flüstert Wagner alltägliche Geschichten von der banalen, dunklen Unterseite des Lebens. Kurzum: Das, was am Amerikanischen irgendwie gut gewesen ist, destillierten Lambchop zu einem hochkonzentrierten, beseelten und groovenden Meisterwerk.

20 GOLDIE – Saturnz Return (FFRR/Motor Music)

Es gibt Leute, die dem Trend immer ein paar Schritte voraus sind. Solche Leute meinen es ernst, wenn sie ein Album „Timeless“ betiteln. Und deshalb war auch „Saturnz Return“ wörtlich zu nehmen, wo Björk eine Ballade intonieren, HipHop-Legende KRS-One den Drum ’n‘ Bass als solchen lobpreisen und Noel Gallagher austesten durfte, wie sehr sich eine Gitarre verzerren läßt. Gebrochene Beats á la Goldie, das waren gemeine Tritte in die Kniekehlen. Brachiale Rhythmus- und Stimmungswechsel, aber auch harfende Melodien, losgelöst sphärisches Gleiten über einer dünnen Schicht aus eiskalter Synthetik. Größenwahn,gewiß, doch das ist ohnehin Goldies zweiter Vorname.

21 GARBAGE – Version 2.0 (Mushroom/RCA/BMC Ariola)

Nein, „Version 2.0“ war nicht einfach nur der Nachfolger des überragenden Garbage-Debüts. Es ging auch nicht mehr darum, daß da ein schottisches Megababe im Minirock gemeinsame Sache mit drei Mittvierzigern machte, die sich ein paar Popsongs fürs nächste Jahrtausend ausdachten. Das ’98er-Album von Shirley Manson, Butch Vig, Steve Marker und Duke Erikson war schlicht und ergreifend State-of-theart-Pop. „I Think I’m Paranoid“, „Hammering In My Head“ oder „Push It“. Egal, die Mixtur aus synthetischen Loops und manischen Gitarren, hochgezüchteten Rhythmen und warmen Harmonien, abenteuerlichen Soundscapes und lasziven Vocals verfehlte nie ihre Wirkung.

22 BEASTIE BOYS – Hello Nasty (Grand Royal/EMI Electrola)

Das wohl am meisten herbeigesehnte Album des Jahres enttäuschte niemanden: Mit wenig Gitarren, aber vielen Ideen stellten die Chaosbrüder Adam Horovitz, Adam Yauch und Mike D. die Welt auf den Kopf, als ob es kein Morgen gäbe. Ständig waren sie unterwegs, um Sounds zu sammeln oder aufzunehmen. Die produktive Rastlosigkeit der Beastie Boys hörte man -es schabte, kratzte und fiepte ständig, daß es eine reine Freude war. Euphorisch war die Lust zum Experiment,eine Steei Drum mit Money Marks Orgel zu paaren – oder Dub-Altmeister Lee Perry ins Studio zu holen, auf daß er das Album mit der Zeile „It’s the beastly Boys with their beastly toys“ auf den Punkt brachte.

23 HIGH LLAMAS – Gold & Bouncy (V2/Rough Trade)

Die Ausgangslage war keineswegs einfach. Mit „Hawaii“ hatte High Llamas-Kopf Sean O’Hagan 1997 die Meßlatte selbst gefährlich hoch gelegt, was sollte da also noch kommen? Aber den rothaarigen Iren mit dem Londoner Wohnsitz konnte auch der Druck der Kritiker nicht aus der Ruhe bringen. Mit Engelsgeduld schuf er mit „Cold & Bouncy“ wieder ein detailverliebtes Meisterwerk der hohen Pop-Schule, ohne sich dabei in der Sackgasse zu verirren. Dafür sorgte schon allein O’Hagans neue Liebe für die Welt der Bits & Bytes, die er gleich neben üppige Orchester-Arrangements stellte und die in Zukunft wohl weiter an Gewicht gewinnen dürften bei der Musik der High Llamas.

24 THE DANDY WARHOLS – Come Down – (Capitol/IRS/Intercord)

Wenn im Jahre 1998 jemand cool war, dann waren das die Dandy Warhols: Sie klauten musikalische Ideen wie die Elstern glitzernden Schmuck und umgaben sich dabei mit dem Ruch des ruchlosen Rockstars. lhr“Every Day Should Be A Holiday“ klang, als wäre Shaun Ryder nie im Drogennebel vor Manchester verunglückt, und bei „Boys Better“ glamourte und glitterte es so gewaltig, daß niemand verstehen konnte, weshalb „The Dandy Warhols Come Down“ hierzulande Monate nach der US-Veröffentlichung erschien. Als wir das Album endlich hören durften, wußten wir aber: Auf diese Psychedelic-Pop-Rock-Rave-undsonstwas-Platte haben wir schon lange gewartet.

25 SMASHING PUMPKINS – Adore (Hut/Virgin)

In den USA schon seit Jahren Superstars, gelang den Smashing Pumpkins mit „Adore“ auch hierzulande der große Durchbruch. Dabei war das Album für die Pumpkins alles andere als typisch: romantisch-verträumter Pop mit Streichern, Mandolinen, akustischen Gitarren und einem Hauch von Elektronik. Zudem folgten die 15 Songs, die allesamt im Midtempo-Bereich rangierten, einer klaren emotionalen Linie: Schwermütig, getragen und voller düsterer Gedanken. Was von Mastermind Billy Corgan eigentlich nur dazu angelegt war, um Fans wie Kritiker zu irritieren, erwies sich als kommerzieller Überflieger. Mit Trauer läßt sich eben doch am meisten Geld verdienen.

26 PLACEBO – Without You I’m Nothing (Hut/Virgin)

Für den Soundtrack zu „Velvet Goldmine“ coverte das Trio „2Oth Century Boy“ von T.Rex. Und vordergründig atmete auch „Without You I’m Nothing“ den Geist des Glamrock. Doch hinter der kunstvoll inszenierten, oft anmaßenden Fassade lauerten Abgründe („Brick Shithouse“), verbargen sich große Gefühle („Without You I’m Nothing“). Und große Melodien. Wie zum Beispiel in „You Don’t Care About Us“, das einem allein den Glauben an die Rockmusik wiedergeben mochte. Wer übrigens das seltene Vergnügen genoß, dieses Album in der Vinylfassung zu erwerben, konnte schnell feststellen: Diese Platte hat – wie Sänger Brian Molko auch -eine Jungs- und eine Mädchenseite.

27 MERCURY REV – Deserter’s Songs (V2/Roughtrade)

Als „Indie-Rock fürs nächste Jahrtausend“ pries die Plattenfirma das vierte Album von Mercury Rev. Die Klangbastler von der amerikanischen Ostküste ließen sich mit Fug auch als unbefangene Erbwalter des Prog-Rock bezeichnen, so filigran, dramatisch und tief geriet ihnen „Deserter’s Songs“. Harfe, Glockenspiel und singende Säge (!) fügten sich in traumverlorene Arrangements, die in ihrer Süße manchmal an die Beatles gemahnten, manchmal aber auch an „Stille Nacht“, das sich bescheiden einfügte in eine elegante Ballade wie „Endlessly“. Kitschfrei besang Jonathan Donahue mit zerbrechlicher Stimme das Leiden an der Liebe, mitten hinein in luftig melodische Arrangements. Groß!

28 A TRIBE CALLED QUEST – The Love Movement (Jive/Rough Trade)

Mit A Tribe Called Quest meldete sich die HipHop-Legende mit seinem fünften Album zurück und verabschiedete sich auch gleich wieder für immer. A Tribe Called Ouest gibt es nicht mehr. Zum Schluß aber schenkten sie uns noch einmal einen dieser großen Momente des HipHop, die den Hörer staunend zurücklassen. Sind es die lakonischen, nasalen Rhymes von Q-Tip, die beiläufig entspannt gedroppten Midtempo-Beats oder aber die sparsam zielsicheren Samples, die die Klasse dieses Albums ausmachen? Das alles und noch viel mehr. Fünf Alben, fünf Meilensteine. Wer kann solch eine Erfolgsstory aufweisen? Mit einer Träne im Knopfloch und einem phatten Danke.

29 WHIRLPOOL PROD. – ??? (Ladomat/Motor Music)

Die Whirlpool-Masterminds sind schlaue Köpfe. Sie beherrschten das Denken in Strukturen, wie ??? zeigt. Mal verdichteten sie ihren musikalischen Stoff, mal lösten sie ihn fast völlig auf. Auf ??? überwog die Auflösung, denn Eric D. Clark, Justus Köhncke und Hans Nieswandt waren nach Jamaika gejettet und hatten die feinsten und lockersten Flavours des Trips auf DAT festgehalten. ??? klang über weite Strecken natürlich und warm, und ließ Raum zum Luftholen -was man von den früheren Whirlpool-Produkten nicht unbedingt sagen konnte. Und was ist mit der Verdichtung? Die gibt’s auf dem gewohnt künstlichen, Roxy Music zitierenden Pop-Knaller „Crazy Music.“

30 FÜNF STERNE DELUXE – Sillium (Yo Mama/Rough Trade)

Sie rappen wie die Deppen, nordisch trocken rocken diese Socken: Fünf Sterne are in the house, und mit Sätzen wie „Hörst du unsre Beats/ fragt ihr nur, was solln die kosten / na mindestens genauso viel wie Kate Moss ihre Knospen“ rechtfertigten sie den Albumtitel. Wie die Trotteligkeit des Professors, der an „Sillium“ herumtüftelt, und andere locker von der Leber weg gerappte Geschichten zeigten. Es sind die frühreren DerTobi und das Bo, die hoch im Norden verantwortlich waren für ein hohes Niveau des deutschsprachigen HipHop. Denn die Fünf Sterne Deluxe haben viel mehr an Styles und Skills, als ihr Kultstück und Singlehit „Willst Du mit mir gehn“ verriet.

31 THE CARDIGANS – Gran Turismo (Motor Music)

Wenn es um ebenso anspruchsvolle wie erotische Pop-Songs geht, sind die schwedischen Cardigans einfach unschlagbar. Dabei hatte das Quintett auf seinem vierten Epos „Gran Turismo“ viel gewagt – und alles verloren. Denn kaum war der unbeschwerte 6os-Pop einer HighTech-Variante aus Breakbeats- und Dance-Anleihen gewichen, blieb der kommerzielle Erfolg aus. Nicht ganz unverständlich, schließlich wirkten die Texte der Cardigans auf „Gran Turismo“ fast morbide. Doch selbst auf diesem Fundament errichteten Nina & Co. noch wunderbare Ohrwürmer wie die erste Single „My Favourite Game“ oder „Erase/Rewind“. Das beste verkannte Album des Jahres.

32 MARK HOLLIS – Mark Hollis (Polydor)

Die Talk Talk-Alben „Spirit Of Eden“ und „Laughing Stock“ lassen Eingeweihte und Musikerkollegen heute noch in Verzückung geraten-Talk Talk hoben die Grenzen zwischen E- und U-Musik, zwischen Erik Satie, Miles Davis und Tom Verlaine auf. Die Zeit seiner Abkehr von der Öffentlichkeit verbrachte Mark Hollis mit Arrangements für Holzbläser. Sein Solodebüt nach sieben stillen Jahren stellte somit ein geradezu meditatives Erlebnis, kaum mehr als eine Hinterglasmalerei mit dünnem Pinselstrich dar. Das Album gelang als Kokon, nahe am Jazz, an der modernen klassischen Musik – und doch so weit weg davon. Mark Hollis unterbrach die Stille nicht, er verlieh ihr lediglich Gestalt.

33 FISCHMOB – Power (Alternation/Intercord)

Da ging ja einiges, bei Fishmob von der Küste: Mit Flachsigkeit und Bodenhaftung pushten Fischmob, ihre Konkurrenz Fünf Sterne Deluxe und das Fette Brot den HipHop von der Waterkant in das Bewußtsein von Ottonormalhörer. Das einfache, aber wirksame Rezept: Nimm Dope Beats, Club- und Weirdo-Sounds als Lebensmelodie, und dazu WG-Küchen-Credibility. Und auf „Power“ war alles drauf: vom Anarcho-Hörspiel über was zum Nachdenken bis hin zur Drum ’n‘ Bass-Einlage – und natürlich auch was für die Charts. Mit Hilfe der Schwaben-Posse um die Fantastischen Vier mauserte sich Fischmobs „Susanne zur Freiheit“ denn auch zum veritablen Sommerhit.

34 FAITHLESS – Sunday 8 pm (Cheeky/Intercord)

Mit „Sunday 8 PM“ zeigten Faithless allen Unkenrufern, daß sie das hohe Oualitätslevel des Vorgängeralbums „Revenge“ locker halten konnten. Wobei jedoch der musikalische Marsch diesmal in eine andere Richtung ging: weg vom Wohlklang der Hitparaden, hin zu mehr dunkleren Tönen. Die Band um Rollo Armstrong kreierte faszinierend vielfältige Beat- und Sound-Landschaften, die in ihrer majestätischen Ruhe jeden Vergleich mit denen von Massive Attack standhielten. Für eine Band, die vor zwei Jahren mit ihren damals brandneuen Dancefloor-Klängen als Blaupause für ungezählte Nachzügler herhalten mußte, klangen Faithless 1998 erstaunlich frisch und vital.

35 MOLOKO – I’m Not A Doctor (Echo/Universal)

Molokos „I’m Not A Doctor“ war ein permanenter Unruheherd: Die Stücke riefen gleich dieses nervöse Gefühl wach, das einen nach durchgemachter Nacht überfällt. Es flirrte und zitterte an allen Ecken und Enden, und Baß und Beats hatten sich davon verabschiedet, die Basis der Songs zu sein. Tanzbar war „I’m Not A Doctor“ deshalb nur bedingt. Begeistern konnte das Album trotzdem: Waren Moloko früher eher dem TripHop zugeneigt, so war beim ’98er Album der Briten der Vergleich mit den Sugarcubes definitiv angebracht. Moloko anno 1998 lieferten kühle, künstliche, süße, spitze Plastikmusik mit dem Suchtpotential einer guten synthetischen Droge.