Joanna Newsom
Divers
Drag City/Rough Trade VÖ: 23. Oktober 2015
Die Öffnung hin zum Song, mit unzähligen Instrumenten und Gedanken: Besser geht’s nicht.
Wenn ein Album ein Ort ist, wohin möchte man dann ziehen? Ins Wien von Wanda, ins Albion der Libertines, aber nur, wenn der Notausgang nicht vernagelt ist. Aber am allerliebsten doch wohl dorthin, wo es nicht mit rechten Dingen zugeht. Auf den Spuren von Julia Holter in ihr „Wilderness“-Universum. Oder Hand in Hand mit Joanna Newsom in die Welt von DIVERS. Ihr viertes Album ist noch eine Nummer größer, kaleidoskopischer, eindringlicher als die Werke davor. Nicht, weil sie noch seltsamer singt oder noch virtuoser Harfe spielt. Sondern, weil sie sich getraut hat, Popsongs zu schreiben. Pop, so wie Joanna Newsom ihn versteht, klar.
Man kann sich dieses Album wie den aufregendsten Tag des Lebens vorstellen. Der Morgen beginnt sehr früh mit einem Plausch mit Rufous Nightjar, einer Nachtschwalbe, alle anderen Figuren schlafen noch, die singende Erzählerin befindet sich scheinbar auf einem Eroberungszug, denkt jedoch daran, zu verschwinden, unterzutauchen. Das Tauchen ist das erste Leitmotiv, und es folgen schnell weitere. Die Stadt New York wird erstmals im zweiten Song besungen: Sapokanikan ist der Fleck, auf dem die amerikanischen Ureinwohner einst lebten. Heute findet man an Ort und Stelle das Greenwich Village. Mit „Leaving The City“ verlassen wir die Metropole, auf dem Land finden wir „Goose Eggs“, in den Highlands tanzen wir den „Waltz Of The 101st Lightborne“ und merken gar nicht, wie sich der Tag langsam dem Ende nähert – wie sowieso das gesamte Album immer wieder von der Zeit handelt, mal ganz konkret an historischen Personen festgemacht, mal philosophisch wie beim Finale „Time, As A Symptom“, das die Nacht einläutet und mit einem Paukenschlag endet. Ihre Erkenntnis: Liebe ist kein Symptom der Zeit, die Zeit ist vielmehr ein Symptom der Liebe. Da kann man jetzt mal eine Kaffeelänge drüber nachdenken. Hat Joanna Newsom mit ihrem Mann, dem Comedian Andy Samberg, sicherlich auch gemacht.
DIVERS ist eine komplexe Erzählung, das ist keine Überraschung nach den letzten beiden Alben YS (2006, fünf Songs zwischen sieben und 17 Minuten) und HAVE ONE ON ME (2010, 18 Songs auf drei CDs). Formal kommt das Werk dagegen gewöhnlich daher: elf Lieder, nur eines läuft mehr als sieben Minuten. Dafür bordet die Platte musikalisch über. Nicht einmal die Künstlerin selbst kann noch die Instrumente zählen, die hier zum Einsatz kommen. Vergleichbar ist die Liste mit dem Cast in Robert Altmans „Short Cuts“, selbst kurze Auftritte sind bestens ausgeleuchtet, es gibt brillant klingende Flöten, die nur für zwei Takte zu hören sind, wie ein Vogel, der verschwenderisch schnell über den Himmel huscht. Viele Instrumente hat Joanna Newsom selbst gespielt, aber auch das Verzeichnis der Gäste ist lang, allein schon zwei Orchester sowie mehrere Personen für die Gitarren und die Drums. Ja, die Gitarren und die Drums. Die Stücke im Herzen der Platte haben einen Blues- und Americana-Einfluss, manchmal singt Joanna Newsom tief, wie eine Südstaaten-Lady – und das ist großartig.
Über die Brillanz von Joanna Newsom ist zu den vergangenen Alben viel geschrieben worden. Über ihre Sangeskunst, ihre Vortragskraft, das Harfenspiel. Doch noch nie zuvor hat sie so zwingende Songs geschrieben. „You Will Not Take My Heart Alive“ besitzt eine herzzerreißende Coda. Das Wasserspiel im Titelstück erinnert an Fever Ray und Philip Glass, „The Things I Say“ an Nina Simone, „Goose Eggs“ an Kate Bush in der Form ihres Lebens, „Waltz Of The 101st Lightborne“ an die Waterboys. So viele Ideen, so viele Gedanken, so viel Magie in den kleinsten Gesten: DIVERS ist eine Offenbarung.