New-School-Bollywood-Techno: Kieran Hebden erforscht auf zwei 20-minütigen Tracks seine indischen Wurzeln.

Man erwartet besser das Unerwartete von Four Tet. Als Kieran Hebden vor ein paar Wochen sein neues Album auf den sozialen Netzwerken ankündigte, wurde bekannt, dass MORNING/EVENING nur zwei 20-minütige Tracks enthalten würde. Zwei Tracks, aha, ein Ambient-Album also. Nicht dass man vor einem Ambient-Album von Four Tet Angst haben müsste, aber das gab es eben schon. Der Vorgänger BEAUTIFUL REWIND von 2013 war quasi das Resümee der Arbeit des Londoner Produzenten im halben Jahrzehnt vorher. Vocal-Samples aus Soul und Afro-Funk, Einflüsse aus Bassmusik, Jungle und Garage, abstrakte Experimente zurechtgebogen zu housigen Hymnen für die ideale Clubnacht. MORNING/EVENING ist nicht – wie so oft im Pop – mehr desselben, sondern ein Ausbruch nach links und rechts vom Hauptstrom.

Die Titel der zwei Tracks „Morning Side“ und „Evening Side“ sind eine Reminiszenz an die indischen Ragas – nicht der einzige Verweis des Halb-Inders Hebden an seine Wurzeln. Die „Morning Side“ beginnt – nicht unironisch – mit dem Standardwerkzeugen der House Music, Bassdrum und Hi-Hat. Nach gut einer Minute ist Schluss, der Gesang der Bollywood-Sängerin Lata Mangeshkar setzt ein, der den Track über die gesamte Dauer dominieren wird. Four Tet sampelt den Gesang Mangeshkars aus dem Song „Main Teri Choti Behana Hoon“ vom Soundtrack des 1983er Films „Souten“, den er in der Plattensammlung seines verstorbenen Großvaters gefunden hat. Four Tet ummantelt die hohe Stimme mit organischen, psychedelischen Spielereien und schillernden Synth-Sounds und unterbricht sie mit abstrakten Interludien. Während der Entwicklungsstrang der ersten Seite auf einer sublimen Ebene abläuft, wird er auf der „Evening Side“ deutlicher. Es beginnt mit abstraktem Minimalismus und geht über in wortlose Vocal-Samples und Strukturen der indischen klassischen Musik, die wiederum umspielt werden vom organischen Plinker-Plinker, das zum Markenzeichen von Four Tet geworden ist. MORNING/EVENING ist der Beweis dafür, dass die Pfade der elektronischen Musik eben doch nicht ausgetrampelt sind, es gibt vielmehr eine Menge an unerschlossenen Territorien. Man muss sie nur entdecken wollen.