Jazz, wie Flying Lotus ihn versteht: Electronica, Funk, Avantgarde, Psychedelia. Featuring Herbie Hancock, Snoop Dogg, Kendrick Lamar und Thundercat.

Die Genrezuschreibung „Jazz“ wird immer dann bemüht, wenn man beim Beschreiben von Musik nicht weiterkommt. Wenn sie irgendwie „anders“ klingt, nicht ins herkömmliche Raster passen will und ihr mit dem bei der Beschäftigung mit Rock/Pop/Elektronik erlernten Vokabular nicht beizukommen ist. Der Hauptstrom des Jazz hat seit Mitte der 70er-Jahre – vielleicht sogar stärker noch als der Rock – seine Bemühungen um Innovation eingestellt und ist zu einer restaurativen und retrospektiven Musik geworden.

YOU’RE DEAD, das fünfte Album von Flying Lotus, ist eine Jazz-Platte – wenn man denn die Musik auf  Früh-bis-Mittsiebziger-Alben wie MWANDISHI, SEXTANT und SECRETS von Herbie Hancock als Jazz bezeichnen will, obwohl die doch viel mehr waren: Funk, Avantgarde, Fusion, Electronica, Psychedelia. Und YOU’RE DEAD ist vielleicht das erste Jazz-Album seit Jahrzehnten mit dem Willen zum Anderssein, das mehr als 500 Käufer weltweit erreichen wird.

Die jazzy Bezüge in der Musik von Flying Lotus gingen von Anfang an über seine verwandtschaftliche Verbindung zur Familie Coltrane hinaus – Alice, Johns letzte Ehefrau, war seine Großtante. Der Jazz – irgendwo in der Grauzone zwischen modal und free – steckte immer schon in den patchworkartigen Soundkonstruktionen des Produzenten aus L.A. Aber so wie auf YOU’RE DEAD war der Jazz selten präsent im Werk von Steven Ellison; er repliziert den Fusion-Jazz der 70er nicht, sondern denkt ihn weiter. Saxofon, Fender Rhodes Piano (gespielt von, ja, Herbie Hancock), jazzy Gitarrenlicks, ein kurzes Schlagzeugsolo, Funk-Bass und fusionartige Passagen wechseln ab in atemberaubendem Tempo.

Jazz, wie Flying Lotus ihn versteht, ist diese chiffrierte und elektronifizierte Variante, wie er von Hancock mit Miles Davis und auf zahlreichen Soloalben in den frühen Siebzigern interpretiert wurde. Der Jazz steht aber nie allein, sondern ist in diverse Kontexte verpackt: Future Funk, advanced not-so-easy-listening und wieder verstärkt HipHop, worauf nicht nur die Features hindeuten: Snoop Dogg, Kendrick Lamar, Thundercat und Ellisons HipHop-Alter-Ego, Captain Murphy. YOU’RE DEAD ist  aber auch ein Album krasser Gegensätze, die sich in vertrackten, um die Ecke gebogenen Soundkonstruktionen, Old-School-Videospielmelodien, ironischen Einwürfen (die Rock-Gitarre in „Cold Dead“), kontemplativen Passagen und der ungeheuren Dynamik in und zwischen den Tracks manifestieren. Für Flying Lotus ist das Experiment nicht Selbstzweck: Die Grundlage seiner Forschungsarbeit ist Musik, die schon lange ihre experimentelle Energie verloren hat. Somit ist das Album auch ein Plädoyer für eine Selbsterneuerung der Musik.