Zum Tod von Nelson Mandela: Nachruf auf eine Symbolfigur des Freiheitskampfes und der Demokratie
Er glich einer "magischen Synthese aus Popstar und Papst": Nelson Mandela ist tot. Der Präsident Südafrikas und Kämpfer für Freiheitsrechte starb im Alter von 95 Jahren in Johannesburg. Ein Bericht von "Die Welt".
Der folgende Text wurde zuerst am 6. Dezember auf „Welt Online“ veröffentlicht:
Wenige Tage vor der ersten freien Wahl in Südafrika im April 1994 trafen Präsident F.W. de Klerk und sein Herausforderer Nelson Mandela bei ihrem einzigen Fernsehduell aufeinander. Beide griffen sich hart an. Mandela warf de Klerk vor, den Rassenhass zu schüren und das Land zu spalten. Am Ende der Diskussion reichte Mandela dem Führer des Apartheidregimes die Hand: „Ich bin stolz, Ihre Hand zu halten, damit wir voranschreiten können.“ Eineinhalb Wochen später war der ehemalige Staatsfeind Nummer eins der erste Mann der Republik Südafrika. Dem Land blieb ein blutiger Bürgerkrieg erspart.
Mandela war es gelungen, von einer eingekerkerten Symbolfigur des Freiheitskampfes zu einer Symbolfigur der Demokratie zu werden, einem Staatsmann, der sein Land eint. Dabei war der Gefangene mit der Nummer 466/64 von allen Seiten in Anspruch genommen worden: sowohl von den Befreiungsbewegungen im eigenen Land sowie auf dem afrikanischen Kontinent als auch von Aktivisten weltweit, die mit „Free Mandela“-Plakaten auf die Straße gingen und 1988 zu seinem 70. Geburtstag im Wembley-Stadion ein Rockkonzert veranstalteten. Rund 200 Millionen Menschen in 60 Ländern sahen das Spektakel.
Eine südafrikanische Zeitung beschrieb ihn einmal als „magische Synthese aus Popstar und Papst“. Mandela war nach seiner Freilassung im Februar 1990 unter dieser überhöhten Erwartung nicht zusammengebrochen, wie selbst von manchem Aktivisten des African National Congress (ANC) befürchtet – er hat sie gar übertroffen. Der Politiker wehrte sich nicht gegen seine Popularität, sondern nutzte sie, um sein wichtigstes Ziel zu erreichen: Versöhnung. Der Methodist vertrat die Ansicht, niemand werde mit Hass geboren; Menschen müssten erst zu hassen lernen. „Wenn sie zu hassen lernen können, dann kann ihnen auch gelehrt werden zu lieben.“
Und vergeben: Mandela lud einen seiner Gefängniswärter zu seiner Vereidigung als Präsident ein, den Staatsanwalt des Rivonia-Prozesses zum Mittagessen, die Witwen und Frauen einstiger Apartheidführer zum Tee. Ihm und seinen Beratern war klar, dass die Apartheid über die Jahrzehnte tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hatte und Rache und Gewalt den totalen Kollaps zur Folge haben könnten. Der Unterdrücker, so sein Credo, müsse genauso befreit werden wie der Unterdrückte.
Was naiv klingen mag, war für den frisch gewählten Präsidenten ein politisches Programm. So realisierte er schon zu Zeiten der Haft, dass er mit den ehemaligen Feinden zusammenarbeiten musste – ein „Entfernen“ aller Weißen oder auch nur aller Mitglieder der Nationalpartei de Klerks hätte zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Verwaltung und damit des Landes geführt.
Andererseits waren Wut und Gewaltbereitschaft unter der schwarzen Bevölkerung enorm; sie entlud sich in blutigen Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen, aber auch zwischen rivalisierenden schwarzen Gruppen. Die Führung des ANC war damals von der ethnischen Gruppe der Xhosa geprägt, zu der auch Mandela gehörte.
Die Konflikte mit der von Zulus dominierten Inkatha Freedom Party (IFP) kosteten Anfang der 90er-Jahre Tausende das Leben. Immer wieder reiste Mandela gegen den Rat seiner Parteifreunde in die Provinz KwaZulu-Natal und diskutierte vor feindlich gesinnten bewaffneten Aktivisten. Einmal standen sie sogar vor dem ANC-Haus in Johannesburg. Mandela hat es irgendwie geschafft, den Konflikt zu entschärfen.
Doch es war vor allem sein Umgang mit den ehemaligen Unterdrückern, den Weißen, der die Welt beeindruckte. Er ließ die Vergangenheit aufarbeiten, indem politische Täter und sogar Folterer ihre Freiheit erhielten, wenn sie ihre Tat gestanden. Man müsse die Vergangenheit ruhen lassen, um dafür zu sorgen, dass so etwas in der Zukunft nicht wieder passiert, glaubte Mandela. Er schaffte es, seine Vision eines neuen Südafrikas bei seinen Landsleuten, gleich welcher Rasse, populär zu machen und sie zu inspirieren. Wer in seiner Nähe war, der fühlte sich wohl, dazugehörig. Als Mensch und nicht zuallererst als Angehöriger einer ethnischen Gruppe. Im Dezember 1993 erhielt er zusammen mit de Klerk den Friedensnobelpreis, auch dafür.
Der Lebensweg Mandelas hatte diese Entwicklung nicht ahnen lassen. Der am 18. Juli 1918 in einem kleinen Dorf in der Transkei geborene Rolihlahla (sinngemäß: Unruhestifter) kam zwar aus einer Familie, die zum Königshaus der Thembu gehört. „Madiba“, wie er landesweit in Anlehnung an einen verstorbenen Stammesführer später genannt werden sollte, wurde in eine Schule geschickt, wo er seinen englischen Namen Nelson erhielt, und später an eine Universität, an der er Jura studierte.
Aber er hatte Probleme mit Autoritäten und machte seinem ursprünglichen Namen immer wieder Ehre: Weil er in einem Streit mit dem Dekan von Fort Hare, der damals einzigen Universität für Schwarze, darauf beharrte, moralisch im Recht zu sein, wurde er hinausgeworfen und musste seine Ausbildung im Fernstudium abschließen.
Die Erniedrigungen durch das Apartheidregime, denen er auch als Anwalt mit eigener Kanzlei in Johannesburg ständig ausgesetzt war, hatten den ANC zu seiner politischen Heimat werden lassen. Mit dem Verbot des ANC im Jahr 1960 und Mandelas Rolle als Führer der ANC-Guerillaorganisation Umkhonto we Sizwe (Speer der Nation) hatte sich der Amateurboxer endgültig dafür entschieden, sein Leben dem Kampf gegen die Apartheid zu widmen. Nein, für die Freiheit. „Wenn es sein muss“, sagte Mandela in seinem berühmten Schlussplädoyer des Rivonia-Prozesses 1964, „bin ich bereit, für dieses Ideal zu sterben.“
Der internationale Druck war schließlich zu groß, um ihn – wie vom Apartheidregime angestrebt – zum Tode zu verurteilen. Im Gefängnis aber war der vermeintlich lebenslang eingesperrte Mandela fast genauso gefährlich wie in Freiheit. Ein Märtyrer auch lebend, stellvertretend für alle Unterdrückten. Mandela versuchte diese Ikonisierung stets zu bremsen, zumal Tausende andere Freiheitskämpfer in seinen Schatten rückten. Er stand für ein Heer der Unbekannten, die ähnliches Leid erfahren hatten.
Und er vermisste seine zweite Frau Winnie, seine fünf Kinder aus zwei Ehen. Nach seiner Verurteilung standen ihnen nur noch ganz seltene Besuche auf der Gefängnisinsel Robben Island zu. Er erklärte später, der Verzicht auf das Familienleben habe ihn sehr geschmerzt. Die Verbindung mit Winnie hielt zwar in den 27 Jahren der Haft, endete aber 1992 mit ihrer Verurteilung wegen Beteiligung an der Entführung und Folterung eines Jugendlichen und anderen Skandalen. 1996 folgte die Scheidung.
Mandelas ungetrübter Optimismus zeigte sich unvermindert auch im Privaten: An seinem 80. Geburtstag heiratete er Graça Machel, die Witwe des früheren Präsidenten von Mosambik.
Im Laufe der Jahre stand er immer mehr für christliche Werte, wie sie nur selten in einer Person vereint wurden. Trotz der jahrelangen Isolation während der Haft – die südafrikanischen Medien durften nicht einmal seinen Namen erwähnen – hatte Mandela seine Arbeit fortgeführt. Im Kleinen, im Kampf für bessere Haftbedingungen und gegen die Apartheid im Gefängnis, aber auch als zentrale Figur des ANC. De Klerk sagte einmal, ihm sei immer bewusst gewesen, dass Mandela die entscheidende Rolle spielt – auch hinter Gittern.
Dabei hatte der ANC längst seine Unschuld verloren: Bei den Anschlägen des „Speers“ gab es Tote und Verletzte. Die grundsätzliche Akzeptanz von Gewalt war eine Gratwanderung, bei der Mandela aber letztlich die Balance behielt. Das Angebot der Regierung Südafrikas 1985, gegen eine Erklärung zum Gewaltverzicht käme er frei, lehnte der Gefangene ab – erst müsse die Regierung auf Gewalt verzichten, den ANC wieder zulassen und vor allem die Rassentrennung abschaffen.
Auf der anderen Seite erkannte Mandela in den Jahren 1990 bis 1994 die große Gefahr, die von Massakern zwischen den verschiedenen Gruppen ausging. Auf einer Veranstaltung in Durban rief er seinen Anhängern zu: „Werft eure Waffen ins Meer!“ Als Pfiffe ertönten, erklärte er, wenn er ihr Führer sein solle, dann müssten die Menschen auf ihn hören. Sie taten es.
Sein Glanz und der zweifellos große Erfolg bei der beginnenden Versöhnung der so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen überstrahlte so manche politische Schwäche. Mandela bekam das Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit nicht in den Griff. Auch gegen die zunehmende Kriminalität und steigende Zahl illegaler Einwanderer fehlten ihm die Mittel. Und besonders in der Gesundheitspolitik gilt Mandela als gescheitert: Kritiker warfen ihm vor, die HIV-Problematik während seiner Präsidentschaft völlig unterschätzt zu haben – so wie ab dem Jahr 1999 auch sein Nachfolger Thabo Mbeki.
Heute ist Südafrika das Land mit einer der höchsten HIV-Infektionsraten der Welt. Rund sechs Millionen der 52 Millionen Einwohner leiden an dem Virus. Auch, weil Mandela das unpopuläre Tabuthema zu spät anpackte. In einem Interview sagte er im Nachhinein, er habe Angst gehabt, die Wahlen zu verlieren. Außerdem habe er keine Zeit gehabt.
Doch Mandela nahm auch diesen Kampf noch auf. Er gründete 1999, nach dem Ende seiner Präsidentschaft, die Nelson-Mandela-Stiftung, die Anti-Aids-Kampagnen finanziert und organisiert. Wieder setzte er seine Popularität ein: Eine Kampagne lief unter der in Südafrika berühmten Nummer 466/64. Als sein Sohn Makgatho im Januar 2005 an Aids starb, war Mandela einer der ersten Prominenten des Landes, der einen solchen Todesfall öffentlich bekannt gab.
Er schaffte es, dass Südafrika den Glauben an sein großartiges Potenzial nie verlor. Mandela war es, der das Land bei der Bewerbung für die Fußball-Weltmeisterschaft 2010 unterstützte. Und seine Anwesenheit bei der Abschlussfeier, einer seiner letzten öffentlichen Auftritte, erhob das Turnier erst zu dem, was es war: zu einer von der Nation und auch der internationalen Gemeinschaft fast vergessenen Botschaft. Südafrika ist eine starke Nation – wenn sich jeder Einzelne als Teil von ihr sieht.
Mandelas Name stand freilich für Werte, die universelle Bedeutung haben: Vergebung, Bescheidenheit, Nächstenliebe. Der Präsident sah sich nie wirklich als Politiker, sondern als Mensch. Selbst wichtige Briefe schrieb er selten auf Regierungspapier – den Nachdruck des Briefkopfes benötigte Mandela nie. Wohl nur wenige Menschen wurden mit einem so hohen Maß an emotionaler Intelligenz geboren. Nur wenige schafften es, ihrem Gegenüber den eigenen Wert bewusst zu machen. Egal, ob Erzfeind oder Freund, Gärtner oder Staatschef.
Zu Lebzeiten hatte es Mandela immer wieder bedauert, so wenig Zeit in seiner Heimat in der Transkei verbracht zu haben. Zumindest wolle er dort beerdigt werden, sagte er einmal. Nun wird ihm sein Wunsch erfüllt: Nelson Mandela starb am Donnerstag, den 5. Dezember 2013, im Alter von 95 Jahren. Nach mehrtägigen Trauerfeiern in Pretoria und Johannesburg soll er in seinem knapp 1000 Kilometer entfernten Heimatdorf Qunu in der Ostkapprovinz begraben werden. Das Land ist wie gelähmt vor Trauer. Wenn es aus seiner Starre erwacht, wird es für Mandelas Werte einstehen, sie bewahren. Hoffentlich.