30 Jahre Depeche Mode: Die Geschichte zum Jubiläum
Diese Geschichte ist zu groß, um sie von einer Person erzählen zu lassen.
Im Februar 1981 veröffentlichten Vince Clarke, Martin Gore, Andy Fletcher und Dave Gahan ihre erste Single, „Dreaming Of Me“. Ein halbes Jahr später tourten die Teenager bereits durch Europa. Was in den darauffolgenden Jahren geschah, ist weitläufig bekannt. Doch wie hat alles angefangen? Der Mute-Chef und Depeche-Mode-Entdecker Daniel Miller, Vince Clarkes Jugendliebe und Gründerin des ersten Depeche-Mode-Fanclubs Deb Danahay, der Konzertveranstalter Gary Turner, der Fotograf des ersten Deutschlandkonzerts in Hamburg, Rainer Drechsler, der Nachbar und spätere Tour-Manager Daryl Bamonte, der Sänger von Blacmange, Neil Arthur, und der Schul- und Pfadfinderfreund Rob Marlow erinnern an die ersten Tage von Depeche Mode.
Daniel Miller gründete 1978 Mute Records. Er entdeckte Depeche Mode 1980. Miller ist jedoch mehr Mentor der Band als Chef ihrer Plattenfirma.
„Es fing alles mit der Titelmelodie von „Doctor Who“ an: Ich war zwölf oder 13 als ich zum ersten Mal diese unglaubliche Melodie hörte, die der BBC-Radio-5-Workshop auf Synthesizern komponiert hatte. Ein Klassiker. Später am College besuchte unsere Filmklasse dann einen Dichter und Soundkünstler, der eng mit Pink Floyd zusammenarbeitete. Er hielt einen Vortrag und zeigte uns einen Synthesizer, den ersten, den ich zu Gesicht bekam. So geschehen Ende der Sechziger, damals fingen gerade die ersten Bands an, Popmusik auf Synthesizern zu komponieren. Künstler wie Kraftwerk, Can, Faust.
Dann kam Punk und dominierte für ein paar Jahre die Londoner Musikszene. Als die Tage der Punk-Anarchie vorüber waren, erinnerte sich manch einer in England an die Klänge dieser Maschinen und so begannen wir, die Do-It-Yourself-Attitüde von Punk auf Synthies anzuwenden. Das Ergebnis war bahnbrechend, es klang wie der Soundtrack für unseren eigenen Film, der Synth-Pop war geboren. Das Tolle daran: Man musste nicht einmal drei Akkorde spielen können wie zu Punk-Zeiten, nein, man drehte an einem Knopf, drückte auf eine Taste, und los ging’s. Das konnte jeder, ich also auch, und so fing alles an mit meinem Projekt The Normal und letztendlich auch Mute Records. Eigentlich wollte ich damals nur meine eigene Platte veröffentlichen, doch dann schickten mir irgendwelche Menschen ihre Demos, was ich merkwürdig fand, da ich mich auch nicht als Plattenfirma verstand.
Irgendwann brachte mir ein Bekannter jedoch diese eine Kassette mit, ein Demo von Fad Gadget. Ich war begeistert und wusste sofort: Mit Frank Tovey will ich arbeiten. Bei einem seiner Konzerte traf ich die vier Jungs aus Basildon. Basildon ist eine sogenannte New Town, errichtet nach dem zweiten Weltkrieg, eine Schlafstadt für die Arbeiter vor den Toren Londons.
Daryl Bamonte wuchs mit Martin, Andy und Vince auf, war ihr erster Roadie und späterer Tour-Manager der Band. Bamonte bezeichnet sich selbst als den ersten DM-Fan der Welt.
„Martin und Andy wuchsen im selben Wohnblock auf wie ich. Vince wohnte ebenfalls in unserem Viertel, ihn lernte ich durch meinen älteren Bruder Perry (Anmerkung d. Red: Perry Bamonte, Gitarrist von The Cure) kennen. Es mag komisch klingen, aber die drei waren wirklich nette Jungs, keine Halbstarken, schon gar keine Schläger, wie sonst so viele aus unserer Gegend, sondern im positivsten Sinne des Wortes nett und anständig!“
Robert Marlow spielte mit Martin Gore bei French Look. Er traf die späteren Mode-Mitglieder Vince Clarke und Andy Fletcher bei den Pfadfindern.
„Vince, Fletch und ich trafen uns bei der 5th Basildon Boys Brigade, einer christlichen Pfadfindergruppe. Wir waren damals sieben oder acht Jahre alt. Es gab ständig irgendwelche Zeltlager und Märsche, wir lernten, Feuer zu machen und im Wald zu überleben, spielten Kricket und Fußball. Sonntags musste man in die Kirche und zur Bibelstunde.
Vince und ich entdeckten sehr schnell unsere gemeinsame Leidenschaft für Musik: Er lernte Geige, ich Klavier, später kam noch die Gitarre hinzu. Manchmal durften wir in der Kirche an die Orgel, das übernahm dann ich, während Vince mich auf der Gitarre begleitete. Schon früh war klar, dass er ein ausgesprochen gutes Gespür für Melodien besitzt. Wir versuchten damals, die aktuellen Hits aus dem Radio nachzuspielen. Ich erinnere mich an furchtbare Versionen von „Pinball Wizard“ von The Who und „Get Back“ von den Beatles. Wir wollten Popstars werden, ganz klar! Mein Vorbild hieß Marc Bolan. Vince stand eher auf Songwriter, auf Simon & Garfunkel, außerdem verehrte er Pink Floyd. Immer, wenn seine Eltern außer Haus waren, machten wir uns Toasts mit Spiegeleiern, dimmten das Licht, zündeten Räucherstäbchen an und hörten Ummagumma.
Irgendwann brachte Fletch seinen Klassenkameraden Martin mit. Er spielte ebenfalls Gitarre, also luden wir ihn zu unseren kleinen Sessions ein. Da waren wir vielleicht zwölf oder 13 und spielten noch immer alles nach, was gerade angesagt war. Das änderte sich, als einer von uns mit einer Kraftwerk-Kassette ankam: Plötzlich gab es diese neuartige Musik, die wie der Soundtrack zu unserem Leben in dieser grauen New Town klang: Kraftwerk, OMD, Gary Numan, New Order, FadGadget, John Foxx, The Normal.
Selbstredend, dass wir auch so klingen wollten. Das führte dazu, dass ich mir als Erster aus der Gruppe einen Synthesizer kaufte, einen Korg 700. Martin begleitete mich auf einem Plastikkeyboard für Kinder. Unsere erste Band nannten wir French Look, Vince und Fletch gründeten ebenfalls eine. Diese hieß No Romance In China und versuchte krampfhaft, wie The Cure zu klingen.“
Deb Danahay war die Jugendliebe von Vince Clarke. Danahay gründete 1981 den „Depeche Mode Information Service“, den ersten DM-Fanclub der Welt.
Vince, Martin und Andy gingen ständig zu irgendwelchen Kirchenveranstaltungen. Ich traf sie das erste Mal in einem Pub namens Highway im Stadtzentrum. Rob stellte mir Vince vor, wir unterhielten uns ein wenig. Es war jedoch keine gute Zeit für mich, da meine Mutter an Krebs erkrankt war, doch nur meine engsten Freunde wussten davon. Sie starb wenig später. Unglücklicherweise fragte mich Vince just in dieser Zeit, ob wir uns auch mal zu zweit treffen wollen. Ich freute mich zwar, sagte ihm jedoch ab. Am Abend vor der Beerdigung überredete unser Vater meinen Bruder, meine Schwester und mich, mit ihm einen Drink zu nehmen, um ein wenig den Schmerz zu vergessen. Natürlich liefen wir im Pub Vince direkt in die Arme. Er dachte verständlicherweise, ich hätte unter fadenscheinigsten Gründen abgesagt, weil ich mich nicht für ihn interessiere. Das stimmt so natürlich nicht. (lacht)
Daniel Miller „Die Boys Brigade, was für eine Truppe! Vor allem Martin und Fletch waren sehr anständig, als ich sie das erste Mal traf. Sie tranken keinen Alkohol, rauchten nicht, Drogen haben sie ebenfalls gemieden. Dabei ist die Stadt Basildon bekannt dafür, eine der schlimmsten Drogenhochburgen Großbritanniens zu sein.“
Deb Danahay „Dave ging in dieselbe Schule wie ich, hing mit denselben Leuten und auf den gleichen Partys rum. Er interessierte sich früh schon für Mode und war so etwas wie der unangefochtene Star der jungen New-Romantic-Szene von Basildon. Dave wusste natürlich, dass er gut aussieht und bei den Leuten ankommt.“
Daryl Bamonte Mein Bruder spielte mit seiner Post-Punk-Band ein Konzert in Southend und da Vince und er gute Freunde waren, fragte er Vince, ob Composition Of Sound nicht als Vorgruppe spielen wollen. Da ich ohnehin vor Ort war, um Kisten und Kabel für meinen Bruder zu schleppen, half ich den Jungs auch beim Aufbau.
Deb Danahay Rob spielte mit Vince bei The Plan und mit Martin bei French Look. Martin, Andy und Vince nannten ihre gemeinsame Band Composition Of Sound. Deren erstes Konzert fand Ende Mai 1980 im Paddocks Community Centre in Laindon statt, es war meine Abschiedsparty, da ich für einige Zeit zum Arbeiten nach Butlins ging. Mein Bruder schrieb über das Konzert in seinem kleinen Fanzine: Er lobte die Jungs, meinte aber, es gäbe Luft nach oben bei beiden Gruppen.
Rob Marlow Dave war anfangs der Soundmann von French Look. Ein auffälliger Kerl, jeder kannte ihn. Er trug immer Schwarz, Lederjacke, Lederhose. Dazu schwarze, stachelige Haare.
Jedenfalls kam er eines Nachmittags zu Proben an die Woodland-Schule und half, die Mikrofone aufzustellen. Nebenan spielten Composition Of Sound, die gerade einen Sänger suchten. Dave ging rüber und sang „Heroes“.
Daryl Bamonte Nicht ganz ein Dutzend Interessenten waren zur Probe erschienen, aber als Gahan „Heroes“ anstimmte, konnte ich an Vinces Gesichtsausdruck ablesen, dass er seinen Sänger gefunden hatte. Was nicht nur an dessen Stimme lag: Dave war schon über Basildon hinaus bekannt. Sein Netzwerk war gewaltig, man kannte ihn im Londoner Nachtleben. Dave hatte schon damals eine ziemlich beeindruckende Präsenz, extrovertiert-schüchtern und sehr charismatisch.
Deb Danahay Letztendlich fragte Vince irgendwann Dave, ob er nicht bei ihnen singen will. Ich weiß noch, wie Dave eines Nachts nach einem Besuch im Pub mit zu mir nach Hause kam: Er erzählte, dass Vince ihm angeboten hatte, der Sänger von Composition Of Sound zu werden und fragte, was ich davon halte. Ich antwortete: „Klar, mach das. Warum auch nicht?“ Doch er zögerte. Er war damals ein schüchterner Junge. Ich vermute allerdings, er wollte einfach ein Kompliment hören, denn kurz darauf erzählte er, dass die Band dann aber Depeche Mode heißen müsse. Leider war ich im Ferienlager, als die Jungs das erste Mal als Depeche Mode in der Schule von Andy und Martin spielten.
Rob Marlow Die Jungs probten anfangs in der Garage unterhalb des Arbeitszimmers von Vinces Mutter. Sie nähte Regenmäntel für Rennfahrer und beschwerte sich sehr bald über den Lärm dort unten in der Garage. Also probten die Jungs mit Kopfhörern, was ziemlich lustig war. Immer wenn man vor der Garage stand, hörte man nur das Klicken der Tasten und Daves Gesang.
Daryl Bamonte Der erste Gig mit Dave fand bei uns in der Schule statt, in der St. Nicholas Comprehensive. Das Konzert kostete 50 Pence Eintritt. Die Bands spielten in einem großen Saal im Obergeschoss. Ich half wie immer beim Aufbau. Dave war supernervös und Vince ärgerte sich darüber, dass Martin in beiden Bands spielte. Er stand in unserer Küche zu Hause und meinte: „Ich setzte Martin auf Drogen.“
Rob Marlow Vince war tierisch sauer, weil Martin in beiden Bands antrat. Aber so ist Martin eben: Er will es allen recht machen. Vince erwartete jedoch ein eindeutiges Engagement. Wir gaben die Vorgruppe, Composition Of Sound, die, soweit ich mich richtig erinnere, ab diesem Abend „Depeche Mode“ heißen wollten, die Headliner. Es war also ein historischer Abend im Juni 1980: Depeche Mode erstmals in voller Besetzung:
Vince, Fletch, Martin und Dave
Ich fand den neuen Namen pathetisch, der Klang allein schon: Depeche Mode – immer schön auf die französische Aussprache achten. Jedenfalls spielten wir unser Set, Martin geht von der Bühne, wechselt sein Shirt und will wieder hoch. Plötzlich dreht Vince total ab: Er schreit rum, behauptet tatsächlich, wir hätten die Einstellungen an den Synthesizern verstellt! Daraufhin sprachen wir zwei Wochen kein Wort miteinander, was damals einer Ewigkeit gleichkam. Als wir wieder redeten, spielten Depeche Mode bereits im Croc’s in Raleigh, es war unheimlich, wie schnell sich diese Band entwickelte. Der Laden hieß so, weil in einer Ecke tatsächlich ein lebendes Krokodil in einem Aquarium vor sich hin vegetierte.
Daniel Miller Das Croc’s war die Vorstadt-Hochburg der New Romantics. Dave und die Jungs gehörten zur zweiten Generation, High Street New Romantics könnte man sagen. Dabei sahen sich Depeche Mode selbst eher als Futurist-Band, schließlich spielten die handelsüblichen New-Romatic-Bands in klassischer Band-Besetzung, erweitert um einen Synth-Spieler. Depeche Mode hingegen war eine reine Synth-Band. Leider schafften sie es nicht, sich modisch von diesen New-Romantic-Vogelscheuechen zu unterscheiden: Wenn ich mir heute diese SM-Lederhosen-Bikerkappen-Fotos aus den ersten Tagen von DM anschaue, schüttelt es mich.
Rob Marlow Der Ruf des Croc’s war exzellent, The Dammed traten hier auf, Boy George kam vorbei, Gary Turners „ Glamour Club“ im Croc’s war ein gigantischer Laufsteg. Es gab eigentlich keine Bühne, man stand am Ende der Tanzfläche – und die Southend-Szene ließ sich nur schwer knacken. Soft Cell sind an diesem Publikum gescheitert. Aber nicht Dave Gahan: Er war einer von ihnen und wusste, wie er sie zum Tanzen bringen würde.
Gary Turner buchte als erster Partyveranstalter Depeche Mode. Sein Abend im Croc’s hieß „Glamour Club“.
Ich kannte Dave Gahan schon aus etlichen gemeinsamen Nächten in irgendwelchen Clubs in London, seine Präsenz war außergewöhnlich. Er kaufte damals ziemlich viele seiner Klamotten in meinem Laden Pin Up in Southend, dort verkaufte ich alles Mögliche: von Lederhosen bis hin zu Bondage-Outfits, Accessoires aus Malcolm McLarens Laden „Sex“, aber auch Netzhemden und SM-Spielzeug. Irgendwann erzählte mir Dave, er singe jetzt in dieser Band, also ging ich zu einem ihrer frühen Konzerte, eine glorifizierte Bandprobe, wie sich später herausstellte. Ich mochte es, weswegen ich ihnen einen Auftritt im Glamour Club zusagte. So nannte ich meinen Abend im Croc’s, jeden Samstag, von acht bis zwei Uhr. Mir war sehr wichtig, dass nur die richtigen Leute dort eingelassen wurden, weswegen die Türpolitik durchaus elitär war. Herein kam nur, wer sich entsprechend kleidete: Entweder in Leder, Hose, Jacke, Käppi, oder eben wie Boy George und seine Freunde. Die Nächte in meinem Laden waren wild, aber wenn man dagegenhält, was in den folgenden 30 Jahren bei Depeche Mode passieren würde, war dies wohl die richtige Feuertaufe.
Daniel Miller An dem Tag, als das erste Album von Fad Gadget ausgeliefert wurde, hatte ich schrecklich schlechte Laune. Mute konnte sich kein eigenes Büro leisten, ich half damals ein wenig bei Rough Trade aus, dafür durfte ich deren Telefon benutzen. Jedenfalls hatte die Druckerei die Hüllen des Albums versaut und ich tobte. Das Büro von Rough Trade war damals auf zwei Stockwerken, ich rannte nach oben, um zu telefonieren. Scott von Rough Trade stand in meinem Office mit ein paar komischen Typen, die ich nicht kannte. Er meinte: „Hör dir diese Band mal an, das könnte dir gefallen.“ Er nannte nicht einmal ihren Namen. Ich hatte jedoch angesichts der Fad-Gadget-Katastrophe wirklich andere Sorgen und ging wortlos weiter. Das nächste Mal, als ich Depeche Mode sah, war dann wenig später im Bridge House. Terry Murphy, ein alter Geezer, Ex-Boxer und ziemlich halbseiden, betrieb dieses Pub in Canning Town. Er versuchte damals, eine kreative Szene im East End anzusiedeln und buchte ziemlich geschickt Bands, die in seinem Laden spielten. Franks Bruder kannte er vom Boxen und so kam es, dass Fad Gadget öfter mal im Bridge House auftrat. Als Vorprogramm buchte er diese Typen aus Basildon. Basildon war in seinen Augen eine Verlängerung des East Ends, von daher passte es ins Konzept.
Deb Danahay Das Bridge House hatte einen exzellenten Ruf als Live-Venue, wobei das jetzt größer klingt als es eigentlich war. Ins Bridge House passten schätzungsweise 350 Gäste.
Daniel Miller Ich kümmerte mich immer selbst um den Sound von Fad Gadget und normalerweise hätte ich Depeche Mode an diesem Abend verpasst. Mein typischer Abendplan sah damals vor, nach dem Soundcheck irgendwo essen zu gehen, um dann pünktlich für Franks Auftritt wieder zurück zu sein. Warum ich das an diesem Abend nicht gemacht habe, weiß ich nicht mehr, jedenfalls staunte ich nicht schlecht, als plötzlich diese vier jungen Typen anfingen zu spielen. Neben mir stand der Typ von Naked Lunch. Wir hörten den ersten Song und dachten beide: „Wow, das ist gut.“ Und so ging es dann weiter. Noch interessanter war für mich die Reaktion des Publikums: Es hat sofort geklickt. Die Leute tanzten und schauten nicht einmal der Band zu. Dave war damals noch sehr schüchtern. Er stand ganz still, sang seine Texte und bewegte sich keinen Zentimeter. Und trotzdem sprang der Funke über.
Ich traf die Band nach der Show, stellte mich vor und sagte ihnen, wie sehr mir ihr Auftritt gefallen hat. Natürlich wusste ich nicht, wie angepisst sie eigentlich waren. Vince und der Rest hatten unser Treffen bei Rough Trade nicht vergessen und begegneten mir dementsprechend kühl. Ich versuchte, ein wenig Small Talk zu halten und fragte Fletch, was für Musik er denn gerne hört. Seine Antwort: „Anything that’s fashionable.“ Daraufhin rief jemand: „ Nein, Fletch, du hörst ELO.“ Bevor ich mich verabschiedete, fragte ich noch, wo sie das nächste Mal spielen würden. Dave gab mir daraufhin die Telefonnummer seiner Eltern. Als ich am nächsten Tag anrief, war seine Mutter am Apparat. Sie holte schließlich Dave ans Telefon, dessen schlechte Laune nicht zu überhören war. Er murmelte nur: „Okay, meinetwegen. Du kannst zu unserem nächsten Gig kommen.“
Neil Arthur begleitete Depeche Mode auf der „Speak & Spell“-Tour 1981. Er ist der Sänger der Gruppe Blancmange.
Stevo von Some Bizarre war derjenige, der mir als Erster von dieser Band aus Basildon berichtete: Depeche Mode nannten sie sich, ein reichlich bescheuerter Name. Und dann auch noch aus Basildon! Na toll, dachte ich, das kann ja spannend werden. Kurze Zeit später fuhren wir nach Raleigh ins Croc’s, um die Jungs live zu sehen. Ich war schockiert! Darüber, wie das Publikum abging. Noch mehr jedoch darüber, wie jung diese Typen waren.
Daniel Miller Beim nächsten Konzert im Bridge House traf ich dann Stevo Pearce im Publikum. Er war ebenfalls an Depeche interessiert und wollte sie auf Some Bizarre rausbringen. Ich hatte mich bereits mit Soft Cell getroffen, bevor ich die Jungs von Depeche das erste Mal sah, war mir jedoch nicht sicher, ob ich mit ihnen arbeiten möchte. Stevo meinte daraufhin zu mir: „Okay, ich nehme Soft Cell, du Depeche.“ Dafür bekam er einen Mix von „Photographic“ für seine nächste Some-Bizarre-Compilation. Nach dem Konzert traf ich die Jungs und schlug vor, eine Single aufzunehmen. Wir besiegelten den Deal mit einem Handschlag. Kein Vertrag, keine Manager, keine Anwälte, Fifty-Fifty. So hielten wir es übrigens bis ’89/90, bis dahin existierte kein schriftlicher Vertrag zwischen Mute und Depeche Mode.
Daryl Bamonte Nachdem Daniel den Jungs den Single-Deal angeboten hatte, fuhren wir heim und niemand sagte ein Wort. Nichts. Kein Geschrei, kein Besäufnis. Andy und Martin sind am nächsten Morgen einfach zur Arbeit angetreten, als wäre nichts passiert.
Rob Marlow Vince schlug sich damals so durch: Mal füllte er im Supermarkt Regale auf, dann jobbte er bei der Eisenbahngesellschaft. Einmal besorgte ihm Andys Vater einen Job am Flughafen in Southend, es war furchtbar: Er musste die Klos der Flugzeuge leeren und stand wortwörtlich knietief in der Scheiße. Aber Vince wollte einen Synthesizer kaufen und träumte nicht nur davon, sondern erarbeitete einen konkreten Plan. Er gab keinen Penny aus. Sie können sich vorstellen, wie stolz er auf seinen ersten Synth war. Für Klamotten blieb natürlich kein Geld – was selbst der Presse auffiel. (lacht)
Basildon Evening Echo „Sie nennen sich Depeche Mode und sie könnten es weit bringen – wenn ihnen nur jemand den Weg zu einem anständigen Schneider zeigt.“
Deb Danahay Dave wusste sehr genau, was man trägt. Die anderen machten es ihm nach:
Lederhosen, Hemd, Lederjacke. Vinces Frisur war eine Notgeburt: Seine Schwester, die eine Friseusenklasse besuchte, hatte ihn total verschnitten, er sah aus wie ein Golfplatz, Löcher und Büschel überall. Also rasierten wir ihm einfach die Seiten ab. Das war dann sein Look.
Daniel Miller Im Herbst 1980 einigten wir uns darauf, es mit „Dreaming Of Me“ als Single zu versuchen. Ich buchte ein Studio und wir trafen uns dort mit unseren Synthesizern. Niemand von uns hatte wirklich einen Plan, ich nur ein paar Monate Vorsprung vor Vince, da ich schon öfter im Studio gearbeitet hatte und so kam es, dass ich half, den Sound für die erste Single zu finden.
Deb Danahay Vince war sehr aufgeregt, als sie für die ersten Aufnahmen ins Tape One Studio gingen. Das war seine Welt: Er liebte es, stundenlang an neuen Geräten rumzuschrauben und sich darin zu verlieren. Vince war derjenige, der Depeche auf Spur brachte, er hatte den Ehrgeiz, die Vision. Als „Dreaming Of Me“ aufgenommen war, war er mit dem Ergebnis hochzufrieden. Immerhin: Die erste Single von Depeche Mode! Erschienen ist sie dann am 20. Februar 1981.
NME „Abgesehen vom narzisstischen Titel, ist ,Dreaming Of Me‘ eine so süß unverbindliche elektronische Laune, wie auch alles von Orchestral Manoeuvres In The Dark. Der ausdruckslose Gesang, die programmierten Rhythmusschleifen und eine Zuckerwattemelodie bescheren drei angenehme Minuten.“
Deb Danahay Als die Single zum ersten Mal im Radio lief, tanzte ich dazu in der Küche meiner Eltern. Ich weiß nicht, ob Vince anwesend war, aber wenn, hätte er sich sicher erst einmal hingesetzt. Er war ziemlich schüchtern damals. Wenn wir zusammen im Auto saßen und eines seiner Lieder im Radio lief, passierte Folgendes: Ich drehte es lauter, Vince sofort wieder leiser.
Daniel Miller Verständlicherweise waren wir alle begeistert, wie gut „Dreaming Of Me“ sich entwickelte. Am Ende hieß es: Platz 57! Wir hatten einen Lauf: Die erste Single in den Charts, die Konzerte gut besucht, die Presse feierte die Basildon Boys. Also gingen wir gleich wieder ins Studio, um die nächste Single aufzunehmen.
Deb Danahay Im Frühjahr ’81 kamen immer mehr Briefe bei den Jungs an. Fans wollten Autogramme, hatten Fragen, wollten wissen, wann und wo denn das nächste Konzert sei. Da Vince keine Lust hatte, all diese Briefe zu beantworten, fing ich an, dies zu übernehmen. Vince hatte mir einen Zettel vorbereitet, auf dem stand, was ich wozu schreiben sollte, die grundlegenden Fakten, Geburtsdaten, Augenfarben etc. Es gab auch den Punkt „Proudest Achivement“. Daves Antwort lautete: „Hearing ,Dreaming Of Me‘ on Radio One.“ Vinces Antwort: „Passing driving test.“ Andy: „Getting Gold in Junior Section of Boys Brigade.“ Und Martin: „Not much.“
Anne, Martins Freundin, hatte irgendwann keine Lust mehr, Martins Briefe zu beantworten und verkaufte lieber T-Shirts bei den Konzerten, also übernahm ich auch seine Post. Jo kümmerte sich um Daves Fanpost.
Irgendwann im Sommer 1981 begannen wir dann, Fan-Mailings rauszusenden. Wir nannten uns den „Depeche Mode Information Service“. Jeder, der einen frankierten Rückumschlag sendete, bekam Post von uns. Jo und ich hatten natürlich keine Ahnung, wie man einen Fanclub managt. Und auch nicht, wie viel Arbeit es bald werden würde. Das erste Foto-Shooting fand vor Vinces Wohnung statt, das Auto auf den Bildern war der geliebte Morris Marina meines Vaters.
Daryl Bamonte „New Life“, die zweite Single, verfehlte knapp die Top Ten, aber schon Platz elf war eine Sensation.
Hot Press „So klingt ehrlicher Synth-Pop.“
Sounds „Eine Fummelei im Dunkel auf der Suche nach dem Schalter, der hoffentlich die Fackel des Erfolgs entfacht.“
Deb Danahay Wir lasen damals alle die gängigen Musikzeitschriften. Dementsprechend war es eine große Nummer, als plötzlich Journalisten anriefen und die Jungs sprechen wollten. Natürlich waren die vier sehr naiv im Umgang mit Medien und Daniel ließ auch jeden an die Jungs ran, der über sie berichten wollte. Anfangs fand Vince das in Ordnung, so lange, bis er einmal falsch zitiert wurde. Ein Journalist fragte ihn, wie wichtig Aussehen für eine junge Band sei und Vince antwortete, dass dies generell sicher von Vorteil wäre. Später stand da jedoch gedruckt, dass Vince sich gut aussehend fände, was er so natürlich nie gesagt hatte. Darüber regte er sich tagelang auf.
Rob Marlow Vince missfiel sehr, dass er falsch zitiert wurde. Aber es gab auch viele gute Berichte, sogar die Lokalpresse hatte die Jungs auf dem Schirm, noch bevor der erste Auftritt bei „Top Of The Pops“ anstand.
Basildon Evening Echo, 16. Juli 1981 „Schon im Mai berichtete das Echo über Depeche Mode aus Basildon, die verehrten Helden der jüngsten Kult-Bewegung, der New Romantics. Diese Woche, mehr als zwei Monate nachdem wir ihnen den Erfolg prophezeiten, steht das Vierergespann der synthetischen Musik in der Hitparade und die Tendenz führt steil nach oben. Heute Abend treten sie bei ,Top Of The Pops‘ im Fernsehen auf.“
Daniel Miller Martin und Fletch konnten gar nicht so schnell kündigen, schon spielten sie bei „Top Of The Pops“ . Man kann es sich bildhaft vorstellen: Fletch erscheint am Tag darauf bei der Arbeit, tut so, als sei nichts gewesen – und wird von applaudierenden Kollegen empfangen. Dabei wären sie am Abend zuvor beinahe nicht ins Studio gelassen worden: Ian Gillan fährt in der Limo vor, die Jungs kommen zu Fuß von der Tube-Station angelaufen. Das Wachpersonal konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese vier Bubis tatsächlich dort auftreten sollen.
Nach dem Erfolg von „New Life“ war klar, dass die Band nun ein Album einspielen würde. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort, hörte ich vom Blackwing-Studio.
Deb Danahay Das Studio war in einer ehemaligen Kirche untergebracht. Es war sehr kalt dort.
Daniel Miller Der Chef des Studios hieß Eric Radcliff, ein genialer Enthusiast, eigentlich ein promovierter Lasertechniker, der jedwede moderne Technologie liebte. Deshalb stand in seinem Studio neben all den Keyboards und Samplern auch ein Videospielgerät rum. Martin und Fletch waren süchtig danach. Während Vince und ich den ganzen Tag dasaßen und an den Sounds und Stücken für das Album feilten und Dave an seinem Gesang arbeitete, zockten die beiden ungeniert ihre Videospiele. Dabei waren sie eh kaum da. Ich sehe es noch heute vor mir: Martin, der nach der Arbeit vorbeischaut. In der einen Hand hält er chinesisches Fast Food, die andere sucht zielsicher den Joystick dieser Maschine. Ich musste ihn ständig ermahnen, endlich seine Parts einzuspielen. Dies erledigte er dann mürrisch und ohne seine Take-Away-Schachtel auch nur abzusetzen. Manchmal wunderte es mich schon, wie wenig enthusiastisch die Jungs, abgesehen natürlich von Vince, am Anfang eigentlich waren. Vermutlich dachten sie nach wie vor, dass all dies ein nettes Hobby sei. Aber man darf auch nicht vergessen, dass Depeche Mode zu dieser Zeit die Band von Vince war. Er schrieb die Songs, er tüftelte den ganzen Tag im Studio, er hatte den nötigen Drive.
Daryl Bamonte Eines Abends saßen wir im Studio, Vince und Daniel schraubten an den Gerätschaften herum, die Band arbeitete an den Stücken, die auf Speak & Spell sollten, da hörte ich folgenden Dialog: Martin fragte Daniel, ob er denn jetzt seinen Job in der City aufgeben solle – und Daniel antwortete: „Ja, ich denke, das solltest du.“ Also kündigten Martin bei NatWest (Bank) und Fletch bei Sun Life (Versicherung). Natürlich war die Zeit nach „New Life“ und „Top Of The Pops“ reif dafür, aber man darf auch nicht vergessen, dass die Jungs einen Working-Class-Background haben. Im September 1981 veröffentlichten sie dann „Just Can’t Get Enough“.
Record Mirror „Bubblegum is back! Okay, der Titel klingt peinlich banal und die ständige Wiederholung, die sich durch den Song zieht, geht einem ganz schön auf die Nerven. Trotzdem ist dieses Teil ein großes Vergnügen.“
Rainer Drechsler fotografierte Depeche Mode bei ihrem ersten Deutschland-Konzert in Hamburg, September 1981.
Im September spielte Depeche Mode das erste Deutschlandkonzert in der Hamburger Markthalle im Rahmen einer Mini-Europatournee. Ich durfte sie beim Soundcheck fotografieren und bemerkte, wie ernst sie bei der Sache waren, wie wichtig für sie der richtige Ton war. Das überraschte mich. Persönlich gefiel mir ihr Synth-Klangteppich damals nicht, da ich eher auf Hardrock stand und wenn schon eine Orgel auf der Bühne, dann bitte die gute alte Hammond-Orgel. Aber egal: Abends beim Konzert war es fast schon zu voll. Eigentlich war die Markthalle bereits zu klein für die Jungs. Der Andrang war gewaltig. Die Stimmung entsprechend euphorisch. Alle spürten, dass hier etwas Besonderes passierte. Der Welle aus England hatte Hamburg voll erwischt.
Daryl Bamonte Die Leute tanzten, sangen, hielten sich in den Armen. Menschen, die nicht einmal Englisch verstanden, sangen mit, fühlten die Musik. Wahnsinn! Ich stand da und begriff, welches gigantische Potenzial die Band meiner Freunde tatsächlich haben könnte. Dave stand dort oben auf der Bühne in Paris und eroberte den Kontinent. Ich dachte nur: „Was für ein großartiger Frontmann!“ Dabei war er gerade mal 18. Nach dem Konzert aßen wir im Le Bains Douce, am nächsten Morgen ging es um 9.30 Uhr weiter, Dave und die Jungs waren pünktlich, wie immer. Nur Daniel kam zu spät. Die Band schlief im Hotel, ich hinten im Van.
Daniel Miller Die vier Konzerte liefen ausge-sprochen gut, Depeche Mode und das europäische Festland waren wie füreinander geschaffen. Vor allem in Hamburg war es Liebe auf den ersten Blick. Doch irgendetwas stimmte nicht. Ich kümmerte mich nach wie vor um den Sound und war zudem noch der Fahrer, und so fiel mir auf, dass Vince lieber vorne bei mir saß und auf die Straße starrte, als hinten im Van bei seinen Bandkollegen und deren Freundinnen abzuhängen. Er sprach kaum ein Wort mehr mit ihnen. Da wurde mir klar, dass dies nicht mehr lange gut gehen würde.
Deb Danahay Als der ganze Zirkus wirklich losging, wurde es Vince zu viel. Er, der anfangs alles angeschoben hatte, empfand das Leben als Popstar als zu anstrengend. Er wollte nicht auf Tour gehen, in Hotelzimmern schlafen, Interviews geben – Vince wollte im Studio sitzen, das ist sein Ding. Nach dem Konzert in Paris blieben wir ein paar Tage länger, nur wir beide, da erzählte er mir, dass er die Band verlassen würde.
Natürlich war ich geschockt. Aber ich hätte niemals versucht, ihn umzustimmen. Vince ist ein Eigenbrödler, ich respektierte seine Entscheidung. Aber krass war es allemal, zumal Speak & Spell gerade erst fertig war.
Neil Arthur Als ich Speak & Spell endlich hören durfte, war ich überwältigt, wie perfekt es arrangiert war. Dass Vince Talent hatte, stand außer Frage. Mit diesem Album hatte er etwas ganz Großes erschaffen. Wunderschöne Melodien, starke Arrangements, mit „New Life“und „Just Can’t Get Enough“ ein perfekter Anfang und ein triumphales Ende. Und dann der ganze Klang des Albums, die Sounds, die Drums: typisch Vince. Genial und einmalig. Ganz großer Synth-Pop eben.
Daniel Miller Mein Freund Seymour Stein von Sire Records, der auch schon Bands wie die Ramones entdeckt hatte, kam nach Europa, um sich die Jungs mit eigenen Augen anzusehen. Er mochte, was er sah, fand Speak & Spell großartig und so verhandelten wir darüber, zu welchen Konditionen er das Album in Amerika veröffentlichen würde. Jedenfalls bekam ich totale Panik, dass Seymour von Vinces angekündigtem Ausstieg Wind bekommen könnte. Gott sei Dank stimmte Vince zu, nichts von seinem Ausstieg öffentlich zu machen, bis das Album auf dem Markt und die Tour gespielt sei.
Neil Arthur Vince fragte uns, ob Blancmange als Vorgruppe mit auf Tour gehen wollen. Was für eine Frage! Es gab in diesen Wochen keine coolere Band als Depeche Mode in England. Anfangs belastete mich das offen gestanden: Wir hatten schon für viele Bands die Vorgruppe gegeben. Aber nie war das Publikum so ausgerastet wie bei diesen vier Jungs. Es war unglaublich. Als wären die neuen Beatles gelandet.
Ihre Musik klang cool, der Bandnname exotisch, Dave sah fantastisch aus, selbst die Namen der Mitglieder schienen nahezu perfekt: Vince Clarke, Andy Fletcher, Martin Gore, Dave Gahan, come on! Man konnte als mittelmäßig erfolgreiche Band leicht neidisch werden auf diese fast schon zu perfekte Aufstellung, doch dafür hatten wir auf Tour zu viel Spaß. Fletch und ich vertrieben uns die Zeit damit, Schach zu spielen. Heute, 30 Jahre später, kann ich ja verraten, wer gewonnen hat: Fletch – und zwar jedes einzelne Spiel. Ansonsten erinnere ich mich vor allem daran, wie wenig wir geschlafen und wie viel wir gefeiert haben.
Daryl Bamonte Vince und ich teilten uns ein Zimmer während der „Speak & Spell“-Tour, 14 ausverkaufte Gigs, von Edinburgh bis Brighton, den Abschluss bildeten zwei Shows in London. Ein Höhepunkt war das Konzert zu Hause in Raquel’s Nightclub. Sie spielten ihr Programm: „Any Second Now“, „ Photographic“, „Nodisco“, „Ice Machine“, „New Life“, „Big Muff“, „ Tora! Tora! Tora“, „Boys Say Go“, „Just Can’t Get Enough“, „I Sometimes Whish I Was Dead“, „What’s Your Name“ und als Zugabe wahrscheinlich „Television Set“ und „Dreaming Of Me“.
Basildon Evening Echo „Es ist kurz nach 22 Uhr, die Vorbands haben ihren Dienst verrichtet, als Depeche Mode auf die Bühne kommen. Man spürt eine leichte Hysterie, als die vornehmlich jungen Mädchen im Publikum anfangen, zu kreischen. Vor ein paar Jahren noch hätten ihre Schreie die Musiker vertrieben – aber nicht heute Abend. Die Verstärker sind zu mächtig. Sie zertrümmern die Schreie und der Beat hämmert auf den Körper ein, wie gewichtige Faustschläge. Hunderte drängen nach vorne gegen die Absperrungen … Vor sechs Monaten noch waren Depeche Mode gut, jetzt sind sie sehr, sehr gut.“
Musikexpress, September 1981 „Kraftwerk meets The Bay City Rollers! Unkomplizierter Ultra-Synthi-Glamour-Pop von vier hübschen, braven Buben … Das Publikum: Jung, chic und tanzwütig. Auf Stühlen, Tischen und der Empore wird getanzt, als stünde der Untergang der Welt bevor … Dress up and dance – das ist die Botschaft! Das Empire fällt, und die Kids tanzen dazu …“
Daryl Bamonte Nach dem Soundcheck fuhren wir zurück ins Hotel. Wir kamen ins Zimmer, da drehte sich Vince um und sagte zu mir: „Ich steige aus.“ Natürlich wusste die Band das bereits zu diesem Zeitpunkt, er hatte es jedem einzelnen vorher schon angekündigt, aber ich war geschockt. Für mich ergab das überhaupt keinen Sinn.
Daniel Miller Die Frage, alles hinzuschmeißen, stellte sich uns nicht. Martin hatte zuvor bewiesen, dass er Songs schreiben kann. Ich spürte zudem, dass Martin, Dave und Fletch es Vince beweisen wollten. Die Presse witterte jedoch bereits das Ende, als sie von Vinces Abgang erfuhr.
Daryl Bamonte Die einen schrieben sie tot, weil der Songwriter wegfiel, andere erklärten sie endgültig zum Teenie-Phänomen. Es gab einen DJ bei Radio 1, der eine sehr populäre Nachmittagssendung leitete. Man wusste, dass er Depeche Mode nicht ausstehen kann, dennoch kam er nicht umhin, ihre Singles zu spielen. Immer wenn er sie spielen musste, sagte er folgenden Satz: „Here we go again – the most boring band in the world.“
Rob Marlow Wir saßen bei irgendjemand in der Küche, als Fletch uns von Vinces Vorhaben erzählte. Er war ziemlich am Boden zerstört darüber, dass Vince einfach so, ohne wirklich nachvollziehbare Gründe aus der Band aussteigen wollte. Ich ahnte schon bei dem Gespräch, wie die neue Rollenverteilung aussehen könnte: Fletch übernimmt die Rolle des Chef-Diplomaten – und Martin würde die Songs schreiben, was Fletch zu beunruhigen schien. Er wusste einfach nicht, ob Martin wirklich das Zeug dazu haben würde. Klar hatte er schon ein paar schöne Lieder geschrieben, aber eine ganzes Album? Wie gut er tatsächlich als Songwriter war, fiel mir auf, als sie mir „Photograph Of You“ zum ersten Mal vorspielten. Ich dachte nur: „Okay, es klingt nicht nach Vince – und trotzdem verdammt gut!“ Mir war klar, dass hier eine neue Zeitrechnung beginnen würde. Die ersten Jahre, die erste Periode von Depeche Mode war vorüber. Und der Rest ist längst Geschichte.