South by Southwest: der Festivalbericht
Das South-by-Southwest-Festival 2012 in Austin, Texas, ist eines der weltweit wichtigsten Fan- und Branchenfestivals. ME-Redakteur Stephan Rehm war dabei – und schrieb für uns ein Tagebuch. Dies ist sein abschließender Report.
Das South-by-Southwest-Festival (SXSW) in Austin, Texas, gilt als eines der weltweit wichtigsten Fan- und Branchenfestivals der Musik und des Films. In diesem Jahr ist ME-Redakteur Stephan Rehm vor Ort und berichtet. Lesen Sie hier seinen abschließenden Bericht aus Austin.
SXSW, Tag 3
15. März – Kennen Sie diese Angst, dass das Pfeifen im Ohr diesmal wirklich bleiben könnte? Dass man sich schließlich doch noch einen Tinnitus eingefangen hat? Dann wissen Sie, wie sich jetzt die 300 Menschen fühlen, die sich zur Geisterstunde von Mittwoch auf Donnerstag mit einer Scheiß-auf-alles-Attitüde die Schutzstöpsel aus den Ohren rissen, als The Jesus And Mary Chain zur Feedbackorgie einluden. Eine dieser aberwitzig langen Warteschlangen, wie man sie in den vergangenen Tagen nur bei Hypebands wie Friends und Lower Dens gesehen hat, bildete sich auch vor dem „Belmont“, der Open-Air-Bühne, die die schottischen Noiserock- und Shoegaze-Pioniere bespielten. Durchaus sehr überraschend, welches Standing die hier offenbar haben. Nicht nur langhaarige Hängengebliebene von damals, in ausgebleichten „Psychocandy“-Shirts und dicken Spliffs hinter’m Ohr, duschen sich in diesem bittersüßen Krawallschwall, auch die nächste Generation in Form von Stylo-Mädchen mit kanaldeckelgroßen Hüten singen Raritäten wie „Sidewalking“ und späte Singles wie „Crackin’ Up“ mit. Sogar Headbanger werden gesichtet. Es ist ein überwältigendes Konzert, eiskaltes Drumming, erbarmungsloses Fiepen und Kreischen, das William Reid aus seiner Gitarre quetscht und dazu dieser Kleinjungen-Gesang seines auch schon 50-jährigen Bruders Jim. Wie viele der Bands rundherum wären undenkbar ohne diese Vorarbeit? Selbstverständlich gibt es keine Zugabe. The Jesus And Mary Chain sind ein abgeschlossenes Kunstwerk. Keine neuen Songs. Keine Zugeständnisse. Keine ruhige Nacht danach. Der Gegenentwurf zum Konzert der Shins, die wenige Stunden zuvor auf einer Freilichtbühne vor dem Lady Bird Lake, der durch die Innenstadt Austins fließt, spielten.
Zigtausende versammelten sich vor der Bühne, viele davon Jungfamilien auf Picknickdecken. Niemand kontrolliert Eintrittskarten, der Ausweis kann auch im Geldbeutel bleiben. Es ist ein Gratiskonzert, gute Tradition beim SXSW, um die Anwohner unter anderem für die vielen saisonbedingten Staus zu entschädigen. Und da passt James Mercer mit seinen Beach-Boys-Harmonien und Jingle-Jangle-Gitarren ja ganz gut hin. Glowsticks und Kinder gehen bei Hits wie „So Says I“, „Phantom Limb“ und „Australia“ in die Luft – vom neuen Album Port Of Morrow kann aber nur der „Simple Song“ überzeugen. Zu viel des Materials klingt leider wie Auszüge aus einer B-Seiten-Sammlung von Wincing The Night Away.
Ein paar Meter weiter versammelt Bruce Springsteen im „Moody Theatre“ Jimmy Cliff, Tom Morello, Eric Burdon und sogar Arcade Fire auf der Bühne. Knappe drei Stunden drischt er auf seine Gitarre ein, der Neffe vom gestorbenen Mitglied der E-Street-Band, Clarence Clemons spielt ein rührendes Saxophonsolo, von der gleichermaßen mitreißenden wie humorvollen Grundsatzrede, die Springsteen am Mittag im „Bruce Springsteen Ballroom“ hielt, schwärmt man einander noch weit in den Tag hinein auf den Straßen vor – der Boss ist der Boss. So wird es zumindest erzählt. Man selbst stand ja lieber schon zweieinhalb Stunden vor Showbeginn bei The Jesus And Mary Chain, um bloß nichts zu verpassen, quälte sich durch Vorprogrammsets der Standardrocker The Arkells und von Titus Andronicus, die ihren Auftritten scheinbar selbst gleichgültig gegenüberstanden. Totally worth it.
Lesen Sie, bei Interesse, von den SXSW-Shows der nächsten Tage in der Mai-Ausgabe des Musikexpress.