Boom Tschak: Albert Koch über die Vergangenheit


Die Elektro-Kolumne von Albert Koch: Warum „früher“ nicht „alles“ schlechter gewesen ist.

Kritik an einer Sache kann leicht missverstanden werden und ins Gegenteil umschlagen. Nehmen wir die immergrüne Retromanie – die regressiven bis reaktionären Tendenzen im Pop. Seit der britische Kulturjournalist Simon Reynolds in seinem Standardwerk „Retromania: Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann“ im Jahr 2011 ein Bewusstsein für das Thema geschaffen hat, ist die Zahl der historischen Aufarbeitungen, die sich in recycelten Trends, Wiederveröffentlichungen und Boxsets manifestieren, nicht kleiner geworden. Reynolds’ Kritik am Status quo ist wahr und richtig und willkommen. Daraus aber den Umkehrschluss zu ziehen, jede Wiederveröffentlichung per se abzulehnen, ist falsch. Das wäre an Nihilismus grenzendes fehlendes Geschichtsbewusstsein. Auf sämtlichen evolutionär getriebenen Gebieten – auch in der Musikgeschichte – darf kein Urteil über die Gegenwart ohne Kenntnis der Vergangenheit gesprochen werden.

Albert-Koch-Boom-Tschak-weiß.jpgWer etwas über House im Jahr 2016 wissen möchte, sollte sich ANOTHER SIDE, das jüngst wiederveröffentlichte Debüt- und einzige Album von Fingers Inc. aus dem Jahr 1988 besorgen und NEWBUILD von 808 State aus demselben Jahr, denn damit wurden die Grundlagen gelegt, die auch heute noch gültig sind. Vor einem Jahr hat das Label Vinyl On Demand die Zehn-LP-Box CHOIX D’ŒUVRES DE 1950 À 1985 des französischen Komponisten Pierre Henry veröffentlicht – sehr zu empfehlen, um zu erfahren, woher zeitgenössische Avantgarden und vorwärtsdenkende Techno-Acts ihre Inspiration holen. Oder die obskuren Veröffentlichungen des Labels Fifth Dimension, das unbesungene Helden aus der Frühzeit der elektronischen Musik ausgräbt, wie den holländischen Komponisten Tom Dissevelt und den italienischen Synthesizerpionier Marcello Giombini. Der Blick in die Vergangenheit ist wichtig, wenn diese Vergangenheit in die Gegenwart wirkt. Die kontextfreie Rückschau, die dazu dient, die eigene Jugend zu glorifizieren, nennt man Nostalgie.