Die 700 besten Songs aller Zeiten: Plätze 10 bis 1
In unserer Jubiläumsausgabe kürten wir "Die 700 besten Songs aller Zeiten". Seht hier die, Trommelwirbel, Plätze 10 bis 1.
Am 13. März 2014 ist sie erschienen, die sage und schreibe 700. Ausgabe des Musikexpress. Und die hatte es in sich: Wir hatten eine prominente zigköpfige Jury aus Musikern wie etwa Lana Del Rey, Mark Lanegan, Danger Mouse, Marteria, Thees Uhlmann, Judith Holofernes, WhoMadeWho sowie aus Autoren, Journalisten und Fachleuten von anderen Magazinen, Tageszeitungen, Radiosendern und Plattenlabels nach ihren Lieblingssongs aller Zeiten gefragt. Herausgekommen war in mühevoller Kleinarbeit nicht weniger als eine Liste mit den 700 besten Songs aller Zeiten inklusive Texten zu jedem (!) dieser Songs, und diese Liste haben wir Euch nach und nach online auf Musikexpress.de/700 präsentiert.
Hier die Einzelteile unserer „700 besten Songs aller Zeiten“ in der Übersicht:
- Plätze 700 bis 651
- 650 bis 601
- 600 bis 551
- 550 bis 501
- 500 bis 451
- 450 bis 401
- 400 bis 351
- 350 bis 301
- 300 bis 251
- 250 bis 201
- 200 bis 151
- 150 bis 101
- 100 bis 51
- 50 bis 11
- 10 bis 1
Und hier kommen nach unseren Plätzen 700 bis 651, 650 bis 601, 600 bis 551, 550 bis 501, 500 bis 451, 450 bis 401, 400 bis 351, 350 bis 301, 300 bis 251, 250 bis 201, 200 bis 151, 150 bis 101, 100 bis 51 und 50 bis 11 nun unsere Plätze 10 bis 1 im Detail:
10. The Clash – „London Calling“
Joe Strummer und Mick Jones ist mit „London Calling“ ein Titel gelungen, der mit seinen Stakkato-Akkorden und dem Sprechgesang eine hochgradig emotionale, emphatische Hymne werden musste. Der Titel – angelehnt an die Nachrichtensendungen der BBC im Zweiten Weltkrieg mit dem Erkennungsruf „This is London calling“ – funktioniert aber auch, weil die Beschreibung von Realität Ende der 70er kaum je so lapidar wie treffsicher in Worte (und Rhythmus) gefasst wurde: Ob es die Furcht vor nahender nuklearer Katastrophe, die Warnung vor Hungersnot, die Ächtung von Polizei-Waffen oder das gerade jetzt in England aktuelle Überschwemmungsdesaster ist, der Song wirkt bedrohlich wirklichkeitsnah.
Anders als die international akzeptierte Stadion-Hymne „You’ll Never Walk Alone“ hat er aber bislang nicht das Potenzial zum grenzüberschreitenden Superhit. Der Titel allein hebt das zugehörige Album auch noch nicht zum Jahrhundertwerk. Es ist vielmehr die gewagte Fusion von Rock, Pop, Jazz und Reggae. Die Themen der Clash sind weiterhin auf der Tagesordnung, ob in London, Kairo, Kiew oder Hamburg. Der „ Finanzplatz“ London scheint weiter zu funktionieren. Und der englische Fußball lebt: Gerade die Londoner Klubs haben in den letzten Jahren nach Spielern aus Deutschland gerufen. Podolski & Co und nicht zuletzt Felix Magath sind dem Ruf von Geld (und Anerkennung ) gefolgt. Vielleicht entdecken sie ja auch noch die gesellschaftlichen Verwerfungen auf der Insel – und den dazu gehörenden Song von The Clash.
9. Leonard Cohen – „Hallelujah“
Die Geschichte von „Hallelujah“ ist so elegisch wie der Song selbst. Als Titel unter vielen auf „Various Positions“, einem Album von Leonard Cohen, erzeugte er kein besonderes Echo. Das stellte sich erst ein, als Jeff Buckley das Lied 1994 für sein Album „Grace“ aufnahm und damit berühmt machte, wobei er sich auf eine textlich veränderte Version von John Cale stützte, die der für „I’m Your Fan“ eingespielt hatte, wiederum ein Tribute-Album für Leonard Cohen. Als Single veröffentlicht wurde aber erst 2007 Jeff Buckleys musikalisch klarere Version (ohne dieses Keyboard). Insgesamt sind über 300 offizielle Coverversionen bekannt.
Was nicht verwundert, klingt „Hallelujah“ doch wie ein Volkslied, das es schon ewig geben müsste. Cohen selbst, immer mehr Dichter als Musiker, haderte jahrelang mit seiner Komposition und soll 80 Verse dafür geschrieben haben, von denen am Ende nur vier übrig blieben. Tatsächlich birgt der Text schon in der dritten Zeile einen Widerhaken, der nicht mehr loslässt: „But you don’t really care for music, do you?“ ist aus dem Munde eines Cohen oder Buckley oder Cale einfach ein Satz von grundstürzender Traurigkeit, die nach Auflösung schreit – und sie bekommt. Hallelujah.
8. David Bowie – „Heroes“
Nur zwei Töne benötigt King-Crimson-Mann Robert Fripp für die hypnotische Gitarrenfigur, die die Strophen von Bowies Liebeslied über zwei Alkoholiker durchzieht. Ohne diesen Minimalismus wäre es nicht gegangen. Auf einmal hatte Bowie nach der faszinierenden Gefühlslosigkeit des Vorgängers LOW da diesen Emotionsbrocken in der Hand, dessen Grandiosität er schon mit den beschwichtigenden An- und Abführungszeichen im Titel vor dem drohenden Pathos zu retten versuchte. Der Reiz dieser Hymne liegt also in der Reibungsfläche von kargem Heroinchic und bombastischer Wall of Sound. Vielleicht entschieden sich Bowie und Ko-Autor Brian Eno für diese Aufnahmetechnik auch aus Liebe zur Metapher. Schließlich bildet Heroes das Herzstück von Bowies Trilogie über die geteilte Stadt Berlin:
„I can remember standing by the wall / And the guns shot above our heads / And we kissed / As though nothing could fall.“ 2003 stellte Bowie klar, dass die Idee zu den beiden mysteriösen Lovern von einer geheimen Affäre seines – damals verheirateten – Produzenten Tony Visconti mit der Backingsängerin Antonia Maaß kam.
7. Nirvana – „Smells Like Teen Spirit“
Wer genauer hinschaute, erkannte es früh: Die teufelswilden Guns N’Roses, als Heilsbringer des Rock gefeiert, waren letztlich auch nur Teil des Problems, Teil der Show. Rock’n’Roll hatte bereits gegen Ende der Siebziger die Fähigkeit verloren, Menschen wenigstens das Gefühl zu geben, dass er etwas weiß von ihren Ängsten und Abgründen. Hohl, das Ding. Doch dann nahm MTV „Smells Like Teen Spirit“ ins Programm, eine Hymne über die Desillusion, die genau daraus ihre ungeheure Kraft zu schöpfen schien.
„I feel stupid and contagious / Here we are now, entertain us“, brüllte ein blonder Zottel mit schief gestelltem Kopf aus dem Fernseher. Und schon bevor sich Kurt Cobain in den Kopf schoss, wollte man ihm unbedingt glauben.
Diese Wahrhaftigkeit ist jedoch nur die halbe Erklärung dafür, warum dieser Song, mit dessen Erfolg weder die Band noch ihre neue Plattenfirma gerechnet hatte, solche Kreise zog: Die Band Nirvana führte hier ihr großes Talent, beherzt zu einfachen, aber drastischen Mitteln zu greifen, ausgerechnet mit ihrer ersten Major-Veröffentlichung zum Zenit. Das Geheimnis des Songs ist seine Dynamik. Die Explosivität von „Smells Like Teen Spirit“ entsteht durch das Hü und Hott des von der Classic-Rock-Kapelle Boston geklauten „More Than A Feeling“-Riffs und die markerschütternden Schreie des Pixies-Fans Kurt Cobain, durch die Melancholie der fast schon lächerlich simpel arrangierten Strophe und die Brachialgewalt des Refrains, durch das simple Nebeneinander von laut und leise. „Smells Like Teen Spirit“ fiel dadurch maximal eindeutig aus: Selbst jemand, der kein Wort Englisch spricht, versteht im Kern, wovon dieses Lied handelt.
6. The Beach Boys – „God Only Knows“
https://www.youtube.com/watch?v=EkPy18xW1j8
„I may not always love you.“ Als erste Zeile. In einem Liebeslied. Auch wenn in den folgenden Worten so etwas wie die Auflösung folgt: Das war für eine Popband in den 60er-Jahren … nun ja, ungewöhnlich.
Vielleicht ist „God Only Knows“ der Song, der am ehesten für jenen Wesenszug des Albums PET SOUNDS steht, das Vergangene völlig hinter sich zu lassen, nicht nur, was das Technische angeht, die Arbeit im Studio und mit Melodien, sondern auch in Sachen Inhalt: „God Only Knows“ ist ein spirituelles Lied. „ Das beste, das jemals geschrieben wurde“, sagte Paul McCartney einmal. Ein typischer Popsong ist es natürlich nicht, an zu vielen Ecken und Enden biegt es von der Norm ab. Die Lyrics schrieb – wie sieben andere Nummern auf PET SOUNDS – Tony Asher, ein Werbetexter, der ansonsten wenig Spuren im kontemporären Pop hinterließ. Brian Wilson, der kurz zuvor aufgehört hatte, mit seiner Band auf Tour zu gehen und stattdessen lieber im Studio arbeitete, erledigte den Rest.
Er leistete meisterliche Arbeit: Die Musik entfernt sich strukturell weit von dem, was seinerzeit Usus war, spielt mit zusätzlichen Bass-Untertönen, Instrumental- und Vokalparts und endet in einem Kanon. Einen Teil der Hook bestreitet ein Waldhorn, im Hintergrund hört man Cembalo und Glockenspiel. Die Leadstimme überließ Brian Wilson seinem damals gerade mal 19 Jahre alten Bruder Carl – er selbst taucht nur in den Backing Vocals auf.
5. The Smiths – „There Is A Light That Never Goes Out“
https://www.youtube.com/watch?v=y9Gf-f_hWpU
Du liebes bisschen. Wer hat es denn zuletzt geschafft, Weltschmerz und Liebeskummer auf solch melodisch-melancholische Weise zu kombinieren? Die Smiths ja mehrfach. Hier, auf „There Is A Light That Never Goes Out“, nimmt uns Kummerabonnent Morrissey mit auf eine Reise, die die meisten von uns selbst schon mal gebucht haben. Es entspinnt sich ein jugendliches Sehnsuchtsdrama, bis an der 1:02-Minutenmarke ein mehrstöckiger Bus den innigen Wunsch des Protagonisten nach Nähe und Zuneigung wahr werden lässt. Als Teenager sucht man sich schließlich alle erdenklichen Einsamkeitsfluchten. Da hält sogar eine zutiefst romantische Verkehrsunfallfantasie als Erlösungsmoment her.
Was den Song so unnachahmlich macht, ist nicht allein, dass er den Pubertätsnerv eines jeden unglücklich Verliebten trifft. Es ist das simple Bild, das der Titel malt: ein stilles Licht im einsamen Kinderzimmer, während man sich nächtens von dort ins bunte Leuchten der Stadt fantasiert. Das Mürrisch/traurig-Wechselspiel in Morrisseys Textzeilen bekommt einen noch bittersüßeren Ton durch die Synthie-Streicher und die einsetzende Flötenmelodie nach der zweiten Strophe. Dazu Johnny Marrs Gitarrenspiel – macht perfektionierten Jugendtrauma-Pop.
4. Marvin Gaye – „What’s Going On“
Eine Hymne für Frieden mit der subtilen Kraft eines unglaublich geschmeidigen Arrangements. Die Tragik: Für Marvin Gaye, damals Anfang 30, war innerer Frieden Anfang der 70er-Jahre lediglich eine Illusion. Als Künstler, Ehemann und Sohn durchlitt er Dauerkrisen. Bei seinem Label Motown hatte er den Status als Lieblingskind von Chef Berry Gordy verloren, die Ehe mit dessen Schwester Anna drohte zu scheitern, der Konflikt mit seinem streng religiösen Vater spitzte sich weiter zu.
Für Marvin Gaye war der musikalische Aufbruch von „What’s Going On“ daher ein künstlerischer und persönlicher Befreiungsschlag: endlich ein Song mit einer Botschaft fernab von üblichen Liebesschwüren; dazu eine Instrumentierung, die sich deutlich vom schablonenhaften Motown-Stil distanzierte und die Richtung vorgab, in der sich das Label schon bald weiterentwickelte und die später den Namen eines Smokey-Robinson-Songs trug, „Quiet Storm“. Gaye dankte es den beiden Autoren Renaldo Benson und Al Cleveland und bot eine der besten Gesangsleistungen der Soul-Geschichte.
Natürlich ist „What’s Going On“ ein Lied seiner Zeit, ein Kind der politischen Unruhen und polizeilichen Willkür in den Vereinigten Staaten der frühen 70er-Jahre. Aber egal, wie viele Jahre vergehen: Der Song wird nicht alt. Er nimmt noch immer passgenau Bezug auf alle Ungerechtigkeiten dieser Welt, und wer ihn hört und dabei ohne Ton die „Tagesthemen“ schaut, der fühlt auch heute noch diese berauschende Mischung: Einerseits ist alles im Fluss, andererseits darf es so nicht weitergehen.